Am Sonntag um 18 Uhr muss sie den Ball abgeben. Nach zehnwöchiger Vorbereitung, monatelanger Detailplanung und nächtelangen Videoanalysen muss sie ihre Mannschaft nun allein auf den Platz gehen lassen. Wahrscheinlich muss sie sich sogar mit falschen Schiedsrichterentscheidungen oder vermeidbaren Gegentreffern abfinden. Mit dem Anpfiff zum Eröffnungsspiel dieser WM, die den Frauenfußball in neue Dimensionen führen wird, gibt Silvia Neid für mindestens 90 Minuten alles Planbare aus ihren Händen.

Vermutlich nicht unmittelbar vor dem herbeigesehnten Turnierauftakt gegen Kanada, ganz sicher aber in den Tagen vorher, wird sie in einem ruhigen Moment die Bilder der vergangenen 29 Jahre, seit ihrem ersten Länderspiel 1982, vor Augen haben. Kaum eine Sportlerin hat die eigene Sportart so sehr geprägt wie Silvia Neid den Frauenfußball als Spielerin, Co-Trainerin und nun als Cheftrainerin. Es gibt wohl keine glaubwürdigere Zeitzeugin für die Entwicklung des Frauenfußballs als sie, die kein einziges der 346 Länderspiele verpasst hat. Der Weg vom Ringen um zumutbare Trainingsplätze, Trikotsätze in Frauengrößen und Anerkennung bis zu einem Ereignis, das Deutschland in diesem Sommer begeistern soll, war lang und ereignisreich. Ganz sicher hat Silvia einen großen Anteil daran, dass es so gekommen ist.

In den vergangenen Wochen wurde häufig die Frage gestellt, wer Silvia Neid eigentlich ist und was sie so erfolgreich macht. Erklärungsversuche gab es in diesen Tagen zuhauf. Und doch hangelten sie sich eher mühsam an der Beschreibung ihrer Akribie, dem Hang zur Disziplin und Mut zu unpopulären Entscheidungen oder, in den privaten Einblicken, die sie selten genug zulässt, an ihrem Golfhandicap entlang. Die Marke ihrer Körperpflegeprodukte bleibt ebenso ihr Geheimnis wie die Frage, wer nun den linken Flügel im Auftaktspiel besetzt.

Ihre Verstimmung wird dem Fragesteller zwangsläufig spürbar, wenn sie einmal mehr über Lira Bajramajs Popstarstatus sprechen soll, statt einrückende Viererketten und die Vorzüge des 4-2-3-1-Systems zu erläutern. Die Deutungshoheit zu behalten hat Silvia schon als Spielerin ausgezeichnet. Damals, als es sie noch gab: die klassische Nummer zehn, die eine Mannschaft und das Spiel dominierte. Sie war Strategin und Anführerin, mit einer erhabenen Selbstverständlichkeit in ihrem Spiel, in der Gewissheit der eigenen Klasse. Ehrgeizig, aber nicht verbissen.

Bedauerlich eigentlich, dass die meisten WM-Zuschauer und auch ein Großteil ihrer Spielerinnen Silvia nie auf dem Feld haben Regie führen sehen.

Was sie allerdings nie hatte, war die Attitüde einer Sportlerin, die schon in der aktiven Zeit wie eine Trainerin auftrat. In meiner Wahrnehmung aus gemeinsamen Nationalmannschaftstagen war ihr eine fröhliche Doppelkopfrunde deutlich lieber als die Auseinandersetzung mit der Taktik fürs nächste Spiel. Umso mehr hat es mich überrascht, mit welchem Fleiß sie sich in den vergangenen Jahren mit den Grundzügen des Fußballs auseinandergesetzt hat. Schon im Oktober 2010 stand jede Trainingseinheit der sieben Vorbereitungslehrgänge fest. Für alle Bereiche, ob Ernährung, Athlethik, Angriffs- oder Defensivverhalten, hat sie Experten im Team. Auch die Freizeitgestaltung ist im Sinne der Lagerkollervermeidung akribisch geplant, nur die Musikauswahl überlässt sie ihren Spielerinnen gerne selbst. Und wenn alles gut läuft, dann kann sie auch ganz lustig sein. Morgen Abend also, wenn ihre Mannschaft ihren Plan umsetzen wird.

Die nächste Kolumne von Katja Kraus lesen Sie am Montag zum Spiel Deutschland - Kanada