Bei Inter Mailand steht Rafael Benitez vor dem Duell bei Werder Bremen unter Druck

Florenz. Mit 13 Jahren schenkte ihm sein Vater einen Notizblock, und Rafael Benitez begann, Fußballdaten und Spielformationen zu verewigen. Er vergab auch Noten, sich selbst stets eine glatte Eins. Ob sich der Spanier nach knapp drei Monaten bei Inter Mailand immer noch ein "Sehr gut" attestiert, ist nicht überliefert. Bekannt ist hingegen, dass die Italiener Benitez aktuell höchstens mit einem "Befriedigend" benoten und die Partien gegen Werder Bremen heute in der Champions League (20.45 Uhr, Sat.1 und Sky) und am Sonntag gegen Juventus Turin bereits als Woche der Wahrheit ausriefen.

Für die alltägliche Hysterie in Italiens Presse sind derartige Alarmszenarien nichts Ungewöhnliches. Noch vor wenigen Tagen galt Benitez' Inter als gewohnter Allesabräumer, dann verlor der Meister am Sonntag in der Nachspielzeit 0:1 beim AS Rom und steckt für die Gazetten trotz der Tabellenführung plötzlich in der Krise.

Benitez dürfte das kaum überraschen, sagte er doch zu Beginn seines italienischen Abenteuers: "Wenn uns Südländern eines fehlt, dann die Geduld. Dagegen kannst du nur angehen, alles sofort zu gewinnen."

Dort liegt wiederum die wohl größte Problematik des 50-Jährigen: Vorgänger Jose Mourinho räumte im Vorjahr alles ab, sorgte dafür, dass Inter als erster italienischer Klub überhaupt das Tripel aus Meisterschaft, Pokal und Champions League errang. Dann verabschiedete er sich zu Real Madrid und hinterließ ein unbequemes Erbe. Kaum ein Tag vergeht, an dem Benitez nicht mit den Mourinho-Richtwerten zum selben Zeitpunkt des Vorjahres verglichen wird.

Bisweilen sind die schwellenden Adern in seinem runden Bubengesicht furchterregend, wenn ein Interview mal wieder mit dem Namen des portugiesischen Kollegen beginnt. Benitez bewahrt jedoch stets Contenance und erwidert höflich: "Wir sollten über Fußball sprechen und Personal, das aktuell bei Inter angestellt ist." Doch so ganz geht einer eben nie - Mourinho schon gar nicht. "Benitez hat sich gemütlich an den gemachten Tisch gesetzt", verkündete "Mou" kürzlich aus Madrid, eventuelle Erfolge des Spaniers wären lediglich die Ernte seiner zweijährigen Aufbauarbeit. Tatsächlich hat Inter seit Februar 2006 nie mehr zwei Spiele in Folge verloren.

Während der ersten Saisonniederlage in Rom schnaubte Außenverteidiger Christian Chivu in Richtung Trainerbank: "Wenn die anderen nicht laufen, geh ich raus." Und jüngst soll einer der Spieler auf Benitez' Vorschlag, dass alle zusammen mal zum Abendessen gehen sollten und nicht nach Nationalitäten getrennt, geantwortet haben: "Auf dem Platz entscheidest du, über den Rest bestimmen wir selbst."

Die seriöse "Repubblica" kommentierte: "Unter Mourinho wären diese Vorfälle niemals passiert." Damit liegt sie zweifelsohne richtig, denn hinter dem Blitzableiter seiner Psychospielchen schweißte der Portugiese eine Einheit zusammen, in der jeder Einzelne für den Trainer nackt auf einem Nagelbrett übernachtet hätte. Die notorisch quengelnde Presse schlug Mourinho mit ihren eigenen Waffen und redete sie einfach gegen die Wand.

Benitez hingegen ist weder Entertainer noch Charmeur, sondern ein sachlich-fundierter Fußballlehrer mit fatalem Bedürfnis nach Schokolade. Er ging durch die Jugendschule von Real Madrid. Mit 20 beendete eine Knieverletzung seine Karriere, und Benitez widmete sich dem Trainerjob. Acht Jahre arbeitete er für den Real-Nachwuchs und hospitierte in England, Frankreich, Italien und den Niederlanden.

"Die größte Inspiration gaben mir Arrigo Sacchi und Fabio Capello. Bei ihnen schrieb ich etliche Notizbücher voll", sagt Benitez, den die Valencia-Spieler "Priester" tauften, weil er oft so in seine Notizen vertieft war, als seien sie Gebetstexte. In Valencia feierte er zwei Meisterschaften und einen Uefa-Pokal-Triumph - seine ersten wirklich wichtigen Erfolge. In sechs Jahren Liverpool führte Benitez den Verein zweimal ins Endspiel der Champions League, 2005 triumphierte er im Elfmeterschießen, nachdem Liverpool zur Pause gegen den AC Mailand 0:3 hinten gelegen hatte.

"Das allein reichte als Bewerbung", kokettierte Inter-Präsident Massimo Moratti. Nun soll Benitez ganz einfach erneut die Königsklasse gewinnen - am besten wieder im Duell mit dem Stadtrivalen AC. Die Titelverteidigung im Landesmeisterwettbewerb gelang jedoch seit 20 Jahren keinem Klub mehr. Und es ist schwerlich Benitez anzukreiden, dass Inter offenbar an einem post-triumphalen Sättigungsgefühl leidet. Dem Team fehlt es an Biss und an der Disziplin der Vorsaison. Psychostratege Mourinho wusste scheinbar genau, dass ein Abschied wohl die beste Entscheidung sein würde, und hinterließ Benitez eine der kompliziertesten Anstellungen im europäischen Fußball: die Mourinho-Nachfolge.

Heute spielen in der Champions League außerdem (alle 20:45 Uhr): Gruppe A : Tottenham Hotspur - Twente Enschede, Gruppe B: Schalke 04 - Benfica Lissabon, Hapoel Tel Aviv - Olympique Lyon, Gruppe C : FC Valencia - Manchester United, Glasgow Rangers - Bursaspor, Gruppe D: Rubin Kasan - FC Barcelona (18.30), Panathinaikos Athen - FC Kopenhagen