Von richtigen und falschen Helden, besiegten Schurken und gebrochenem Bann: Was uns auf dem Weg Richtung Finale schon alles begegnet ist.

Das Wortschatzportal Leipzig, eine äußerst nützliche Institution, ordnet das Wort "Sommermärchen" der Häufigkeitsklasse 16 zu. "Sommermärchen" ist damit seltener als "Sonnencreme" (Häufigkeitsklasse 15), begegnet einem aber öfter als "Badetuch" (Häufigkeitsklasse 17) und genauso oft wie "Deutschlandfahne". Geht es also mit rechten Dingen zu, wird "Sommermärchen" zum Wort des Jahres 2010. Schon 2006, als man schließlich "Fanmeile" zum Wort des Jahres kürte, wäre es wohl die bessere Wahl gewesen, aber damals war noch alles anders: Deutschland scheiterte im Halbfinale, und "Sommermärchen" war ein Fußball-Film von Sönke Wortmann. "Deutschland, ein Sommermärchen", schrieb damals auch der "Spiegel": Man wähnte sich "in einem anderen Land", welches den Fußball feierte "und sich selbst - mit mediterranem Frohsinn und unverklemmtem, weltoffenem Patriotismus".

Damals war der Begriff "Sommermärchen" also noch beziehungsreich. Gewissermaßen stellte das Wort Heinrich Heines vom "Wintermärchen" auf den Kopf. Heine hatte in seinem satirischen Versepos von 1844 den "deutschen Winter" zum Nationalcharakter erklärt: "Noch immer das hölzern pedantische Volk, / noch immer ein rechter Winkel / In jeder Bewegung, und im Gesicht / Der eingefrorene Dünkel."

Daran aber denkt heute wohl kaum noch jemand. Der Begriff "Sommermärchen" gehört, so weiß es das Wortschatzportal, fest zum Vokabular des Fußballs, er steht neben den Wörtern "Fußball-WM" oder "Nationalmannschaft". Im Jahr vier nach seiner Prägung bezeichnet "Sommermärchen" nur noch die Euphorie während einer Fußball-WM, bei der die deutsche Elf mindestens um Platz drei mitspielt. 2014 also wird, so sich die deutsche Mannschaft nicht blamiert, wieder Sommermärchen sein. Wahrscheinlicher aber wird der Begriff, einfach weil er so schön ist, schon 2012 auch auf die Europameisterschaft ausgedehnt.

Andererseits: Üblicherweise macht Sprache freiwillig oder unfreiwillig Sinn, was, wo der Sommer des "Sommermärchens" ja tatsächlich den Sommer meint, zu der Frage verleitet, ob das Märchen auch ein Märchen ist. Heine hatte, als er den Begriff verwendete, das Volkstümliche im Sinn. Die Übersetzer Schlegel und Tieck bewiesen sich, als sie aus Shakespeares "The Winter's Tale" kurzerhand ein "Wintermärchen" machten, als Romantiker. Aber was soll Märchen im Kontext Fußball heißen? Sind damit bloß Volksfest und Volksfeststimmung gemeint oder hat die Geschichte, die ein Fußballturnier schreibt, womöglich die Nachfolge jener "kürzeren volksläufig-unterhaltenden Prosaerzählung" angetreten, die die Sachwörterbücher der Literatur definieren? Greifen, wie im Märchen üblich, übernatürliche Gewalten ins Alltagsleben ein, wenn Mesut Özil einen Zuckerpass auf Miroslav Klose schlägt?

Der russische Literaturwissenschaftler Wladimir Jakowlewitsch Propp hat 1928 eine "Morphologie des Märchens" geschrieben und dafür 100 russische Zaubermärchen so gründlich skelettiert, dass genau 31 für ein Märchen charakteristische Handlungsmotive, sogenannte Narrateme, übrig blieben. Nicht alle, aber viele davon würden, so Propp, in jedem Märchen realisiert. Folgt unsere kollektive WM-Erzählung womöglich demselben Muster?

Wenn Märchenheld Michael Ballack in die englische Ferne auszieht, wo er dem Schurken Kevin-Prince Boateng begegnet, kommt Propps Narratem Nummer eins zum Tragen: "Ein Familienmitglied verlässt das Zuhause". Und Narratem Nummer acht stellt fest: Der Schurke fügt einem Familienmitglied eine Verletzung zu. Und weil der Star die Mannschaft ist, kommt in der Vorrundenpartie Deutschland gegen Ghana (samt Boateng) auch noch Narratem Nummer 16 zum Tragen: Der Held - in diesem Fall dann Schweinsteiger & Co. - trifft "in direkter Auseinandersetzung" auf den Schurken. Ergebnis: 1:0.

Doch die Rollen sind bei einer Fußball-Weltmeisterschaft immer auch austauschbar. Nach der Vorrunde jedenfalls war Diego Maradona der bessere Schurke als Kevin-Prince Boateng, und wenigstens auf vielen Zeitungs-Titelseiten sah Maradona in Viertelfinalzeiten ja wirklich wie ein magisch beringter böser Zauberer aus - wahlweise war er auch ein tonnenförmiger Riese. Der Schurke wird im Wettbewerb besiegt, sagt Propps Narratem Nummer 18, und Nummer 19 stellt fest, dass der Bann gebrochen wird. Mit Narratem Nummer 20 kehrt der Held schließlich zurück. Muss man das noch übersetzen? 4:0 gegen Argentinien, endlich wieder gegen eine große Mannschaft gewonnen, und Michael Ballack sitzt auf der Tribüne.

Der Rest ist, wenigstens theoretisch, ein Kinderspiel: Der Held wechselt den Ort (Durban, Moses-Mabhida-Stadion), ein falscher Held (David Villa) taucht auf, der richtige Held erfüllt neuerlich eine schwere Aufgabe (er besiegt im Halbfinale Spanien), der falsche Held wird bloßgestellt (David Villa schießt diesmal kein Tor), und der Held nimmt eine neue Gestalt an (er wird Finalist).

Fürs Endspiel lässt sich das genauso weitererzählen. Dann kommt, endlich, Propps finales Narratem Nummer 31 zur Anwendung: Der Held besteigt den Thron - Philipp Lahm stemmt den Pokal in die Höhe.

Es könnte natürlich auch sein, dass unsere Helden am Ende wie Hans im Glück mit leeren Händen heimkehren - aber selbst dann befolgen sie die ewigen Gesetze der Märchengattung. In einer Zeit, der - wie die Philosophen sagen - die großen Erzählungen abhanden gekommen sind, muss eben der Fußball als kleine Erzählung herhalten, als "volksläufig-unterhaltende", im Idealfall märchenhafte Geschichte für einen schönen Sommer. Und im Volksmund selbst dient die Vokabel "Sommermärchen" ohnehin nur als zarte, poetische Variante des Aufrufs "Wahnsinn!"