Eine Glosse von Nico Binde

Wahrsager, Scharlatane und Kaffeesatzleser fürchten um ihre Existenz. Denn die Hellseherbranche hat einen neuen Medienstar. Er heißt Paul - und ist Krake. In seinem Oberhausener Aquarium sagte er bislang alle deutschen WM-Spiele richtig voraus, weshalb er der Szene mehr Kopfzerbrechen bereitet als Nosferatu und die eierlegende Wollmilchsau zusammen. Immer mehr Tierorakel-Apostel scharen sich um Kraken-Paule.

Neu ist die tierische Begabung allerdings nicht: Vorangegangene Experimente mit intelligenter eingestuften Primaten zeigten bereits, dass Schimpansen den Wertpapierhandel mitunter besser beherrschen als hoch qualifizierte Analysten. Aber dass ein Krake den menschlichen Propheten das Geschäft vertentakelt, war selbst für professionelle Seher, nun ja, nicht absehbar. Die Zunft ist erzürnt, weil das "Oktopus-Orakel" mediale Aufmerksamkeit erfährt, während Berufspropheten weiterhin in schlecht beleuchteten Kirmeszelten die Apokalypse verkünden müssen.

Die ersten Sterndeuter fragen sich schon, ob ihre Ausbildung am Zauberinternat umsonst gewesen ist, wenn jetzt jedes dahergelaufene Weichtier seinen Saugnapf in ihre Angelegenheiten stecken darf. Und mit welchen Umsatzeinbußen muss die Propheten-Innung erst rechnen, wenn immer mehr Alternativ-Orakel wie Schildkröten, Papageien, Delfine, Nacktmulle oder mexikanische Stabheuschrecken auf den Markt drängen?

Schwer zu sagen. Noch ist genug Platz für alle da, wie das Beispiel im nahen Timmendorf zeigt. Dort traten "deutsche" Rochen gegen "spanische" Katzenhaie im Flossenball an - und gewannen durch "Klose" 1:0. Oktopaul sagte dagegen einen spanischen Sieg voraus. Doch selbst wenn der Achtarmige irrt, muss man sich keine Sorgen machen. Ihm liegen Angebote mehrerer Sender vor. Nach der WM soll er Wetter und Lotto moderieren.

Seite 6: Orakel Paul sieht deutsche Niederlage