Während England Lampards nicht gegebenem Treffer hinterhertrauert, fordern Experten technische Hilfsmittel

Bloemfontein. Lothar Matthäus, Kommentator bei al-Dschasira, mit Fünf-Tage-Bart und wie immer braun gebrannt, strahlte in der Pause auf der Tribüne des ausverkauften Free-State-Stadions von Bloemfontein über beide Ohren: "Haben Sie das gesehen? Einen halben Meter war der Ball drin, das war die Rache für Wembley."

Was Deutschlands Weltmeister von 1990 in seiner typischen Art in nur zwei Halbsätzen auf den Punkt brachte, wird wohl in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten die ganze Fußball-Welt beschäftigen. Passiert war es in der 38. Minute: Frank Lampard, Mittelfeldmotor der englischen Nationalelf vom FC Chelsea, zog aus 17 Metern ab - der Ball flog über Manuel Neuer hinweg, knallte an die Unterkante der Querlatte und von dort eindeutig hinter die Linie, zurück an die Querlatte und schließlich in Neuers Arme. Schiedsrichter Jorge Larrionda, ein Buchhalter aus Uruguay, ließ weiterspielen, sein Assistent Mauricio Espinosa an der Linie hatte kein Tor angezeigt. Wembley lässt grüßen - diesmal nur umgekehrt.

Im WM-Finale 1966 in Wembley hatte Geoff Hurst die Engländer mit einem bis heute umstrittenen Treffer in der Verlängerung mit 3:2 gegen Deutschland in Führung gebracht. Damals war nicht klar erkennbar, ob sein Schuss hinter der Torlinie aufgeprallt war - nach deutscher Sichtweise war der Ball selbstverständlich vor der Linie. Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst hatte den Treffer nach Rücksprache mit dem sowjetischen Linienrichter Tofik Bachramow dennoch gegeben. England wurde schließlich durch den 4:2-Sieg Weltmeister, den Deutschen blieb nur der Vizetitel und ein 44-jähriges Trauma. Bis gestern.

Zumindest die rund 10 000 deutschen Anhänger in Bloemfontein konnten ihr Glück über die späte Revanche nicht fassen - im Gegensatz zu den verbitterten Engländern. "Ich verstehe nicht, warum wir in unserer heutigen Zeit mit so viel Technologie noch über solche Dinge reden müssen. Wir haben Fehler gemacht, aber der Schiedsrichter hat einen noch größeren gemacht", ließ Englands Teammanager Fabio Capello seinen Frust freien Lauf. Aufmunternde Worte bekam Capello ausgerechnet von den Deutschen. "Ich kann die Enttäuschung der Engländer ein Stück weit verstehen. Selbst ich habe von der Tribüne aus geglaubt, dass der Ball drin war", sagte DFB-Präsident Theo Zwanziger. Auch der frühere DFB-Teamchef Franz Beckenbauer hatte Mitleid: "Deutlicher kann es nicht sein. Es ist doch fast ein halber Meter. Das hätte der Linienrichter sehen müssen."

Die traditionell gnadenlosen englischen Medien brauchten nicht lange, um Schiedsrichter Larrionda als Schuldigen für das Scheitern im Achtelfinale auszumachen. "England fliegt nach einer der größten Fehlentscheidungen der Fußball-Geschichte raus", schreibt die Zeitung "Daily Mail" in ihrer Online-Ausgabe, "Über der Szene lag der Schatten von 1966", heißt es in der "Sun". Illustriert wurde der Frust im Fußball-Mutterland mit großen Fotos vom hinter der Linie des deutschen Tores aufprallenden Ball.

Und tatsächlich löste das Tor, das nicht gegeben wurde, eine erneute Diskussion über die Leistungen der WM-Schiedsrichter, eventuelle technische Hilfsmittel und weitere Torrichteraus. "Das ist ein unverzeihlicher Fehler. Das muss der Assistent sehen. Das war kein Wembley-Tor, der Ball war ganz klar hinter der Linie", sagte Hellmut Krug, der für das Schiedsrichterwesen bei der Deutschen Fußball Liga (DFL) zuständige Ex-Referee. Bereits vor dem nicht gegebenen Tor hatte der Weltverband Fifa nach langem Schweigen die schwachen Auftritte seiner WM-Schiedsrichter eingestanden. "Es gab Entscheidungen, die keine guten Entscheidungen waren", gab Generalsekretär Jêrome Valcke zu.

Und während außerhalb Deutschlands lediglich über das nicht gegebene 2:2 geredet wird, wird innerhalb Deutschlands gerne betont, dass der eine Moment in der 38. Minute nicht spielentscheidend war. "Das war ein klarer, gut herausgespielter Sieg. Gut, dass es nicht auf das nicht gegebene Tor angekommen ist. Jetzt geht es Schritt für Schritt weiter", lobte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). Auch Deutschlands Torhüter Manuel Neuer, der unmittelbar an dem Nicht-Tor beteiligt war, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen: "Nachdem ich mich umgedreht habe, habe ich mich nur auf den Ball konzentriert. Gerade bei der Doping-Kontrolle habe ich gesehen, dass er drin war. Ich habe versucht, schnell nach vorne zu spielen, damit die Schiedsrichter nicht daran denken, dass der Ball drin war."

Auf der Insel hat man sich dagegen für einen ganz eigenen Umgang mit dem "umgekehrten Wembley-Tor" entschieden. Englische Buchmacher haben Lampards Tor trotz fehlender Anerkennung durch den Schiedsrichter als Treffer gewertet. Wer in der "Geoff-Hurst-Spezialwette" auf ein Tor der Three Lions nach einem Lattenschuss gesetzt hatte, bekam bei mehreren Anbietern auf der Insel seinen Gewinn ausgezahlt. "Jeder hat gesehen, dass der Ball drin war. Nur nicht der entscheidende Mann", sagte ein Sprecher.