Vor dem Länderspiel gegen Deutschland ist Frankreich nicht nur auf der Suche nach seiner fußballerischen Identität

Bremen. Wenn die französische Nationalmannschaft planmäßig heute Vormittag um 11.45 Uhr ihr Edelquartier im Hilton-Hotel Bremen aufschlägt, ist die Équipe Tricolore gerade mal 2,2 Kilometer von der deutschen Nationalmannschaft entfernt, die im nicht weniger luxuriösen Parkhotel residiert. Und obwohl die kurze Distanz laut Navigationssystem in weniger als acht Autominuten zurückzulegen ist, scheinen die beiden Auswahlteams, die sich morgen Abend im Weserstadion (20.45 Uhr/ZDF und im Liveticker bei abendblatt.de) zum insgesamt 24. Mal gegenüberstehen, in Wahrheit regelrechte Fußballwelten zu trennen.

Während das DFB-Team, Zweiter der Fifa-Weltrangliste, als Topfavorit für die Europameisterschaft im Juni gilt, wären viele Franzosen mehr als zufrieden, wenn ihre Nationalelf, derzeit 17. der Weltrangliste, in der Ukraine und in Polen ohne Skandale bliebe. Die Erinnerungen an die vergangene WM in Südafrika, als nach dem Rauswurf von Stürmer Nicolas Anelka die Spieler in einen Streik traten und in der Heimat eine Welle der Empörung auslösten, sind noch immer frisch. "Diese Narbe wird ewig bleiben", sagte Nationaltrainer Laurent Blanc, der nach der WM 2010 das schwere Erbe des unbeliebten Raymond Domenech angetreten hatte.

Doch auch "Le Presidente", wie der frühere Abwehrhüne seit dem WM-Titel 1998 im eigenen Land ehrfürchtig genannt wird, brauchte nicht lange, ehe er seinen eigenen Skandal hatte. Ein Skandal, der sogar die Geschehnisse in Südafrika in den Schatten stellen sollte. Der Vorwurf: Der 46-Jährige soll sich bei einer internen Verbandssitzung für eine Quote bei der Förderung von Talenten aus arabischen und afrikanischen Einwandererfamilien ausgesprochen haben. Ein Vorwurf, dem Blanc zunächst energisch widersprach, dann aber in Teilen bestätigte. Er wurde zwar später juristisch entlastet, moralisch blieb indes mehr als nur ein Restzweifel. "Es liegt kein Gesetzesverstoß vor", sagte Sportministerin Chantal Jouanno, um gleichzeitig das Verhalten des Nationaltrainers zu rügen. "Plump und eindeutig unangebracht" und "nahe an der Grenze zum Rassismus" seien die Überlegungen gewesen.

Der beispiellose Vorgang zeigte mehr als deutlich, wo das Grundproblem der französischen Auswahl zu finden ist. Bereits bei der WM in Südafrika sollen die Streitereien nicht sportliche, sondern ideologische Hintergründe gehabt haben. Nachdem die Generation "Black-blanc-beur" ("Schwarz-weiß-arabisch") für den WM-Titel 1998 und den EM-Titel 2000 als gelungenes Beispiel des französischen Integrationsmodells herhalten musste, wurde in den vergangenen Jahren öffentlich die hohe Anzahl von Profis mit Migrationshintergrund als Erklärung für den plötzlichen Misserfolg ausgemacht. Einige Verbandsfunktionäre sollen sogar schwarze und muslimische Spieler wie Patrick Evra oder Franck Ribéry für die Geschehnisse in Südafrika verantwortlich gemacht haben. Auch über die kürzlich eingeführte Pflicht, die Marseillaise vor den Spielen zu singen, wurde kontrovers diskutiert.

Tatsächlich hat sich auch das politische Klima in Frankreich radikalisiert, die rechtsextreme Front National gilt längst als etabliert. "Die französische Auswahl hatte zuletzt Probleme, die auch in der französischen Gesellschaft begründet zu sein scheinen", sagt DFB-Manager Oliver Bierhoff, der Frankreichs Nationaltrainer Blanc aber von etwaigen Rassismus-Vorwürfen freispricht: "Ich kenne ihn sehr gut, da ist nichts dran." Vielmehr glaubt Bierhoff, dass die sportlichen Misserfolge der vergangenen Jahre auch durch Versäumnisse des französischen Verbandes nach den Titeln 1998 und 2000 zu begründen sind: "Der Verband hatte sich offenbar ein bisschen zu sehr ausgeruht nach den großen Erfolgen. Der Glanz hat ein wenig abgenommen."

Joachim Löw, der Frankreich trotz der Enttäuschungen bei den vergangenen Turnieren im Sommer zu den Mitfavoriten zählt, weigert sich aber hartnäckig, den moralischen Zeigefinger zu heben. "Früher haben wir immer sehr neidisch nach Frankreich geschaut", erinnert der Bundestrainer, der an die ausgezeichnete Nachwuchsförderung à la française erinnert. Er selbst sei schon häufiger in Clairefontaine-en-Yvelines zu Besuch gewesen, dem Institut bei Paris, das sich insbesondere der jugendspezifischen Trainerausbildung verschrieben hat. "Das Einzige, was der französischen Mannschaft zuletzt fehlte", sagt er, "war echter Teamgeist." Das hätte sich zuletzt unter Blanc jedoch deutlich gebessert. Individuell gehört die Équipe mit überragenden Einzelkönnern wie Franck Ribéry oder Samir Nasri ohnehin zu den besten Nationen. So groß, wie es der eine oder andere gerne hätte, stellt Löw klar, sei der Abstand zwischen Deutschland und Frankreich jedenfalls nicht. Zumindest nicht auf dem Fußballfeld.