Joachim Löw spricht von der “einen oder anderen Baustelle“. Stürmer Podolski leistet sich Handgreiflichkeit gegen einen Journalisten.

München. Dass Lukas Podolski durchaus ein Freund der nonverbalen Auseinandersetzung ist, hat der Kölner schon früher bewiesen. In Wales fing sich Kapitän Michael Ballack im April 2009 eine Ohrfeige ein, als er Podolski daran erinnerte, dass Fußball ein Bewegungssport ist. Nach dem 0:1 gegen Argentinien war dieses Mal ein TV-Journalist dran. Nachdem dieser den 24-Jährigen mit flapsig-provozierenden Äußerungen aufgeheizt hatte, kam es zu einem kleinen Scharmützel, in dessen Zuge Podolski dem Journalisten das Mobiltelefon aus der Hand schlagen wollte.

Nachts um 2.30 Uhr rief Podolski bei dem Raufkumpanen an, entschuldigte sich gestern auch auf der DFB-Seite im Internet ("Habe mich im Ton vergriffen"). Und doch war die Szene bezeichnend für die fehlende Balance der Nationalelf. Statt als homogene Einheit präsentiert sich die DFB-Auswahl als Ansammlung von frustrierten, unerfahrenen und verunsicherten Spielern. Die Zweifel wachsen, ob es Bundestrainer Joachim Löw auch dieses Mal gelingt, mit einer knapp vierwöchigen Vorbereitung die Defizite zu eliminieren. Der deutsche Fußball steckt in einer Glaubenskrise. Ernüchterung macht sich breit.

"Fehlenden Mut und Selbstbewusstsein" machte Löw in seiner Analyse nach dem Argentinien-Spiel für das nicht vorhandene Offensivspiel verantwortlich. Das klingt alarmierend, schließlich sind gerade das früher essentielle Charaktereigenschaften gewesen, um andere Defizite zu kompensieren. Aber der Bundestrainer steckt nun einmal mit seiner Mannschaft in einer notwendigen Phase des Umbruchs. Mit René Adler, Jerome Boateng, Serdar Tasci, Thomas Müller, Toni Kroos, Cacau, Sami Khedira und Mesut Özil standen in den 90 Minuten acht Spieler auf dem Platz, die zusammen auf gerade mal 39 Länderspiele kommen.

Auch deshalb ging das Konzept für die "Kopie eines WM-Viertelfinals" (Diego Maradona) nicht auf. Unter dem schon häufig praktizierten Prinzip, einem Topgegner mit gut strukturierter Defensivarbeit jegliche Kreativität zu rauben, litt das offensive Umschalten massiv.

Prompt stellte ZDF-Experte Oliver Kahn die Systemfrage und forderte, wieder mit zwei Stürmern spielen zu lassen. Von zentralerer Bedeutung ist jedoch, ob Löw an seinem Konzept in der Zentrale mit dem gegen Argentinien nicht funktionierenden Duo Michael Ballack und Bastian Schweinsteiger festhält. Der Bundestrainer muss entscheiden, ob es nicht sinnvoller wäre, dem DFB-Kapitän einen defensiv agierenden "Sechser" zur Seite zu stellen, auch weil sich die Innenverteidigung wie gehabt nur als löchriger Verbund präsentiert. Auch der zuletzt verletzte Heiko Westermann konnte mit Per Mertesacker noch nicht wirklich überzeugen. Mit dem Verschieben von Schweinsteiger auf die rechte Mittelfeldseite könnte Löw zudem gleich ein zweites Problem beheben: einen Vertreter für den Bayern-Profi zu finden. Mit den talentierten, aber noch reichlich grünen Thomas Müller und Toni Kroos in eine WM zu gehen, scheint ein zu waghalsiges Unterfangen. Ob es die richtige Entscheidung ist, an Miroslav Klose festzuhalten, wenn dieser auch weiterhin bei Bayern München kaum zum Einsatz kommt, ist zumindest zweifelhaft.

"Natürlich gibt es noch die ein oder andere Baustelle in jedem Mannschaftsteil", bestätigte Löw, der im Mai nach dem Abschluss der Bundesliga seinen vorläufigen (und wohl erweiterten) Kader benennt. "Das Gerüst steht. Es wird weitgehend aus den Spielern bestehen, die schon bei der EM und WM dabei waren. Bei einigen kommt es nun darauf an, was sie in der Liga zeigen. Wenn Spieler bis Anfang Mai starke Leistungen zeigen, dann ist das sicher ein Vorteil.

Löw steht vor der vielleicht schwierigsten Phase seiner Amtszeit. Dass der DFB "nicht die Mannschaft mit der meisten Qualität" hat (Philipp Lahm), ist bekannt. Aber trotzdem wie früher bei großen Turnieren gute Ergebnisse zu erzielen, scheint dieses Mal wirklich eine große Kunst zu sein.