Doch bis jetzt fehlen dem Bundestrainer noch zehn Spieler. Joachim Löw kritisiert die Uefa und spricht von einer “zerrütteten Vorbereitung“.

Porto Cervo. "Ist der dein Freund? Spielt der auch Fußball?" Dies seien, erzählt Stuttgarts Profi Cacau, die meistgestellten Fragen seines Sohnes Levi gewesen in den ersten Tagen des Trainingslagers der deutschen Fußball-Nationalmannschaft auf Sardinien. Zumindest die zweite Frage musste der Stürmer zumeist verneinen und antworten: "Das hier ist der Masseur." Oder: "Das ist ein Arzt." Auf der Anlage des luxuriösen Hotels Romazzino unweit des Nobelorts Porto Cervo (Hafen des Hirsches), tummelten sich zwar viele Menschen mit grünen Trikots, der Farbe der Trainer, Physiotherapeuten, Fitnesstrainer und Betreuer. Weiße Trikots hingegen, die Farbe der VIPs, also der Feldspieler, waren jedoch äußerst selten anzutreffen.

Zur Einheit im "Campo Sportivo Andrea Corda" meldeten sich Dienstagmittag neben Cacau gerade mal sechs Spieler zum Dienst, davon drei Torhüter. Vom einst angedachten Familienausflug ist wenig übrig geblieben. Außer Cacau hat nur noch Lukas Podolski seine Familie mitgebracht. Nein, so sieht kein Erfolg versprechender Start in die "Mission 2012" aus, an deren Ende der erste EM-Titel seit 1996 stehen soll. Von einer "zerrütteten Vorbereitung" sprach Joachim Löw folgerichtig, auch weil die Planungen des detailbesessenen Bundestrainers ständiger Überarbeitung bedürfen. Das ohnehin dezimierte Team beklagt stets Ausfälle.

Miroslav Klose muss wegen einer Innenbandzerrung am Knöchel genauso einige Tage kürzertreten wie Lukas Podolski (muskuläre Probleme), Benedikt Höwedes (Wade) absolvierte auf dem Platz nur individuelles Training. Bezeichnend, dass die fünf Dortmunder Mats Hummels, Marcel Schmelzer, Ilkay Gündogan, Sven Bender und Mario Götze am Nachmittag mit Verspätung im Quartier eintrafen - die Privatmaschine musste wegen eines technischen Defekts kurzfristig getauscht werden. Auch diese fünf Spieler werden zunächst separat trainieren, kündigte Torwarttrainer Andreas Köpke an.

+++ Andreas Köpke dreht kräftig am Torwart-Karussell +++

Vor sechs Jahren, zur Vorbereitung auf die WM 2006, führte der damalige Bundestrainer Jürgen Klinsmann die DFB-Auswahl das erste Mal nach Sardinien, ins Forte Village in der Nähe von Cagliari. Begleitet von vielen Familienmitgliedern und Freundinnen, stellte die deutsche Fußballelite jedoch schnell fest, dass sie sich nicht in einer Wellnessoase eingefunden hatten und sich der Begriff "Regenerationstrainingslager" eher als ein Etikettenschwindel herausstellte. Nicht Bier und Wein flossen in Strömen, sondern der Schweiß der Spieler.

Auch nach Klinsmanns Rückzug teilte Nachfolger Joachim Löw die Vorbereitung in mehrere Etappen ein. Vor der EM 2008 lud der Bundestrainer Familie und Freunde nach Mallorca ein, 2010 traf man auf Sizilien zusammen. Doch dieses Mal schrumpfte das Auftaktprogramm auf die bekannte unliebsame Art und Weise zusammen. Kurzfristig habe man sogar erwogen, den Trip ganz abzusagen, gab Manager Oliver Bierhoff zu. Man habe sich aber dagegen entschieden, weil man sonst nicht hätte kontrollieren können, ob die Spieler auch anständig trainieren.

Ein Trainingslager als eine Art "Warmhalteplatte" also für Akteure wie Marco Reus oder André Schürrle, das hatte sich Löw ganz anders vorgestellt, auch wenn der verbliebene Rest unbeirrt die Gummibänder hervorholt und wieder der Schweiß fließt. Auf Sardinien hob sich am Dienstag vor allem der Leverkusener Lars Bender hervor, der die Ausdauereinheit mit Bravour meisterte. In der Geschichte der Nationalmannschaft haben Trainingslager längst einen besonderen Status erlangt, man denke nur an den Geist von Spiez, der die Mannschaft zum WM-Titel 1954 in der Schweiz führte. Die Spieler für das große Ziel Turniergewinn zu vereinen, einen Teamgeist zu kreieren, das ist schon immer eine unverzichtbare Säule des Erfolgs auch für Löw. Angesichts der Verspätung der acht beim Champions-League-Finale geforderten Bayern-Spieler sowie von Mesut Özil und Sami Khedira, die am heutigen Mittwoch mit Real Madrid in Katar spielen müssen, fallen teambildende Maßnahmen aber flach. Wie soll sich eine Gemeinschaft bilden, wenn ein Großteil im DFB-Paradies fehlt?

Schon traurig, wenn der Schalker Julian Draxler, der nebenbei noch für seine Abiturprüfung büffeln muss, erzählt, er habe die erste Halbzeit des Pokalfinales zwischen den Bayern und Dortmund im Mannschaftsraum verfolgt, sei dann aber auf sein Zimmer verschwunden, um die müden Beine hochzulegen. Wie sehr sich Löw um seine intakte Gruppe sorgt, zeigen seine Aussagen via DFB-TV. Offen äußerte der Coach seine Sorge, dass eine Finalniederlage der Münchner in der Champions League gegen den FC Chelsea nachhaltig negative Auswirkungen auf die Nationalmannschaft haben könnte: "Dann wäre die Enttäuschung groß und wir müssten ihnen noch zwei drei Tage mehr freigeben, damit sie den Kopf freikriegen", sagte der Bundestrainer. Er weiß genau, dass ohne die Führungsqualitäten eines Philipp Lahm oder Bastian Schweinsteiger die Balance im Team leiden könnte. Ungewöhnlich war es trotzdem, dass Löw die Möglichkeit einer Bayern-Pleite direkt ansprach.

Fast in den Hintergrund rückte bei diesen Aussagen, dass Löw die Zeit für Feinarbeit auf dem Platz fehlt. Wenn er endlich alle Spieler des Kaders zusammenhat, bleiben ihm nur wenige Übungstage, um den Spielern in einer Art Crashkurs die Inhalte zu vermitteln. Kein Wunder, dass Löw angesichts des gedrängten Zeitplans die Uefa aufforderte, Änderungen vorzunehmen: "Vor einem Turnier müsste man wohl doch andere Lösungen finden. Die Abstellungsperiode könnte früher sein. Wir sollten eine Woche mehr kriegen."

So aber sei ein "gemeinschaftliches Training im taktischen Bereich schwierig", sagte der Bundestrainer. Vermutlich werde er auf das spezielle Einüben von Standards (Ecken, Freistöße) verzichten müssen. Ein Bereich, wo eigentlich Nachholbedarf bestünde.

So muss Löw vor dem EM darauf bauen, dass sich die Spieler ähnlich wie bei einem Klassentreffen sofort heimisch fühlen. Sein Ziel kann nur sein, die Gruppenphase gegen Portugal, die Niederlande und Dänemark zu überstehen - und Zeit zu gewinnen. Denn vom 25. Mai bis zum Finaltag sind es ja auch immerhin fünf Wochen, in denen sich ein Team für den Titel entwickeln kann.