Bundestrainer Joachim Löw geht im Trainingslager der Nationalmannschaft leidenschaftlich seiner Berufung als Fußballlehrer nach.

Sciacca. Eintrag ins WM-Logbuch der deutschen Nationalmannschaft: 18. Mai, Tag 1 ohne Michael Ballack . Der Wind auf Sizilien bläst noch immer kräftig bis böig. Auf dem sonnendurchfluteten, gepflegten Trainingsplatz erledigen die Spieler ihre Aufgaben ohne Fehl und Tadel.

Dass der Deutsche Fußballbund (DFB) die streng abgeriegelten Tore des Quartiers für eine öffentliche Einheit öffnete, konnte kein Zufall sein. Seht her, auch ohne den Kapitän a. D. wird weiter konzentriert-engagiert am Gelingen des WM-Projekts gearbeitet, lautete die Botschaft.

Ein Mann in kurzen Hosen steht im Mittelpunkt, auf ihn kommt es nun an. Mit erstaunlich schnellem Antritt und enger Ballführung demonstriert er Berlins Arne Friedrich "högscht" persönlich das richtige Zweikampfverhalten. Die Kommandos kommen in kurzen Sätzen, wobei die Stimme zum Ende hin an Lautstärke zunimmt und an badischem Dialekt verliert. "Tempo aufnehmen! Mitgehen, dranbleiben!" Wer Joachim Löw bei der Arbeit mit dem Defensivverbund beobachten durfte, erlebte einen 50-Jährigen, der leidenschaftlich seiner Berufung Fußballlehrer nachgeht. Dabei erinnert sein Drei-Phasen-Vorgehen an das eines Zahndoktors: Erst die fauligen Stellen entfernen (Sizilien), dann ein Fundament gießen (Südtirol) und schließlich die Feinpolitur vornehmen (Südafrika).

In Italien bedeutet dies für die Spieler intensives Grundlagentraining mit ständigen Wiederholungen, wobei die Abwehr und die Defensive getrennt in Gruppen arbeiten. Präzises Passspiel, Ballmitnahme in hohem Tempo, richtiges Stellungsspiel und vor allem kontrollierte Zweikämpfe. "Nur das Spiel des Gegners, notfalls mit Fouls, zu unterbinden, das reicht heute nicht mehr", fordert Löw, der bei der Analyse von Statistiken erkannt hat, dass die Quote von Gegentoren nach unnötigen Fouls bei über 40 Prozent liegt. Im Offensivbereich liegt ein Schwerpunkt von Löws Arbeit im Spiel ohne Ball ("Da müssen wir zulegen"), um Überzahlsituationen erzeugen zu können. Alle Übungen werden mit Videokameras aufgezeichnet und von Löws Chefanalyst Urs Siegenthaler ausgewertet.

Da mit Ballack ausgerechnet die Schaltzentrale des deutschen Spiels fehlt, muss Löw vor allem ab Sonnabend in Südtirol an personellen und taktischen Varianten feilen, wobei die Grundausrichtung klar scheint: Um die Abwehr zu stabilisieren, dürfte der Bundestrainer an der "Doppel-Sechs" im Mittelfeld mit Bastian Schweinsteiger und seinem neuen Partner (Sami Khedira, Philipp Lahm?) festhalten. Gerade gegen die kantigen Australier im ersten WM-Gruppenspiel (13. Juni) bietet sich ein 4-2-3-1-System mit kombinationsstarkem Mittelfeld an. Schließlich kommt es ohne Ballack noch mehr auf das Funktionieren des Kollektivs an.

Sollten die Spielzüge während des Turniers zuweilen an Rugby erinnern, so könnten Rückschlüsse auf den gestrigen Besuch Jonah Lomus gezogen werden. Der 35-jährige Neuseeländer, der es im Spiel mit dem Ei bis zum Legendenstatus gebracht hatte, führte die Mannschaft in die Besonderheiten seiner Sportart ein. Eine willkommene Abwechslung im Trainingsalltag, zumal der 125 Kilo schwere Koloss eine interessante Geschichte zu erzählen hatte: 2005 stand er mit seinem Nationalteam, den All Blacks, vor der WM ohne Kapitän und dessen Stellvertreter da und schaffte dennoch den Einzug in das Finale, welches dann verloren ging.

Der Betreuerstab erhofft sich mit Aktionen wie diesen zusätzliche Stimulation, wobei sich Löw sowieso optimistisch gibt: "Die jungen Spieler sind lernwillig und -begierig, sie sind unglaublich motiviert und haben den Vorteil, dass sie im Training hoch belastbar sind und stets an die Grenzen gehen können, weil ihre Regenerationszeit niedrig ist." Beste Voraussetzungen für Doktor Löw also, den Patienten Nationalmannschaft vom Ballack-Schock zu kurieren.