Berlin. Wie geht es der Hamburger Delegation bei den Weltspielen der geistig und mehrfach Behinderten? Ein Besuch in Berlin bringt Aufschluss.

Was er ihr bedeutet, dieser größtmögliche Erfolg bei ihrem mutmaßlich letzten internationalen Wettkampf, lässt sich zunächst an dem ermessen, was Andrea Sperlich nicht sagt. Viel zu ergriffen, um Worte zu finden, ist die 56 Jahre alte Reiterin, als sie am Mittwochnachmittag nach der Siegerehrung des Dressurwettkampfs auf der Reitanlage der Special Olympics World Games im Berliner Stadtbezirk Pichelsberg ihrer Trainerin Stefanie Rückner in die Arme fällt.

Das funktioniert erst, nachdem sie, die Goldmedaille an einem Band um den Hals baumelnd, auch ihre den Tränen nahe Mutter und Barbara Grewe, Präsidentin der Special Olympics Hamburg (SOH), geherzt hat. „Ich kann das noch gar nicht fassen“, sagt Andrea Sperlich, die als eine von 13 Athletinnen und Athleten zur Hamburger Delegation bei den Weltspielen der geistig und mehrfach Behinderten zählt.

Zweimal Gold für Andrea Sperlich

„Ich war unglaublich aufgeregt vorher, aber als ich auf dem Pferd saß, habe ich nur gedacht: Jetzt mach dein Ding“, sagt die erfahrene Sportlerin, die bei den Stormarner Werkstätten in Ahrensburg arbeitet, auf der Reitanlage in Jersbek trainiert und am Donnerstag zudem noch Gold im Geschicklichkeitsreiten feiern konnte.

Ungefähr zur selben Zeit, zu der sie zu Gold reitet, sitzt Timo Hampel auf einer Bank neben Court sieben auf der Tennisanlage des SC Brandenburg und ärgert sich. Gerade hat der 26-Jährige sein Gruppenspiel gegen den Ägypter Sayed Ahmed in zwei Sätzen verloren.

Die brennende Sonne und der Ärger haben sein Gesicht rot gefärbt. Timo Hampel, der mit Trisomie 21 (Down-Syndrom) geboren wurde, braucht etwas Zeit, um sich zu erholen. Aber als er über das sprechen soll, was er in Berlin erlebt, ist all der Frust schon wieder verflogen.

Hampel-Geschwister im Doppel stark

„Ich habe hier so viel Spaß. Wir wollen ja die Inklusion weiter voranbringen, dafür brauchen wir mehr solche großen Turniere. Wenn ich einen Wunsch hätte, dann möchte ich, dass die nächsten Weltspiele der Special Olympics in Hamburg stattfinden“, sagt er und grinst glücklich.

Am liebsten hätte das Multitalent in Berlin auch beim Hockey und beim Golf mitgespielt, beides kann er genauso gut wie Tennis. Aber weil nur eine Sportart pro Teilnehmer erlaubt ist und seine Schwester Gina (23) als Unified Partnerin, also als nicht gehandicapte Athletin spielberechtigt, im Tennis am stärksten ist, treten die beiden gemeinsam im Doppel an.

Dort spielten sie am Donnerstag im Finale um Gold – und unterlagen ausgerechnet dem Norderstedter Christian Schlaikier (48) und Abendblatt-Redakteurin Annabell Behrmann (30), die als Unified Partnerin mit ihm antritt. Es sind Begebenheiten wie diese, die die Bandbreite dessen abbilden, was bei den Special Olympics im Vordergrund steht.

Teamabend am Freitag

Auch geistig behinderte Menschen sind traurig, wenn das, was sie zeigen wollten, nicht so funktioniert wie erhofft. Auch hier gibt es Verlierer, aber es gibt, so wirkt es zumindest, keine Niederlagen. Weil tatsächlich, so ist der Eindruck, der vom Besuch der Hamburger Delegation nachhaltig bleibt, das Dabeisein eine viel wichtigere Rolle spielt als das Ganz-oben-Stehen.

Barbara Grewe ist seit 2018 SOH-Präsidentin. Seit der Eröffnungsfeier am vergangenen Sonnabend und bis zum Schlussakkord am Sonntag kümmert sich die 64-Jährige darum, die 13 Aktiven zu betreuen. An diesem Freitag zum Beispiel ist für die Delegation und die mitreisenden Familien ein Teamabend in einem Berliner Burger-Restaurant geplant.

„Für unsere Athletinnen und Athleten ist es besonders schön, hier im Fokus zu stehen und gesehen zu werden“, sagt sie. Viele geistig behinderte Menschen litten darunter, in ihrem Leben oft Ablehnung zu erfahren und das Gefühl zu haben, in vielem der oder die Schlechteste zu sein. „Hier sind sie anerkannte Sportlerinnen und Sportler, die sich mit den Besten der Welt messen können. Dafür sind diese Weltspiele so wichtig.“

7000 Aktive aus 190 Nationen

Gut 7000 Aktive und rund 3000 Begleitpersonen aus 190 Nationen sind in der Hauptstadt aktiv. 1800 Journalisten sind akkreditiert. Eine beispiellose Fernsehallianz aus den öffentlich-rechtlichen Sendern ARD und ZDF, den Privatkanälen RTL (mit der Hamburgerin Monica Lierhaus als Moderatorin) und Sat.1 sowie Bezahlsendern wie Sky oder Telekom sendet insgesamt 400 Stunden live.

22.000 Freiwillige helfen dabei, einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. 140 Millionen Euro kostet die Ausrichtung, die Hälfte davon zahlt der Bund, den Großteil der anderen Hälfte das Land Berlin. Dazu kommen Sponsoringgelder und Einnahmen aus dem Ticketing – bis zum Ende der Spiele sollen 80.000 Karten verkauft sein.

„Wenn die Aufmerksamkeit und die Offenheit für die Special Olympics, die wir hier erfahren, anhalten, wäre das der nachhaltige Nutzen dieser Weltspiele, aus dem wir etwas machen könnten“, sagt Barbara Grewe, „ich hoffe nur, dass wir nach Berlin nicht wieder ins Nichts fallen.“ So ist zum Beispiel die Finanzierung der SOH-Geschäftsstelle aktuell nur bis Jahresende gesichert.

Kostenlose Medizinversorgung

Auch Leo Heckel hofft, dass der Effekt dieser Weltspiele langfristig anhält. Der Schwimmer vom Eimsbütteler TV ist Athletensprecher, am Montag hatte er mit seinem Unified Partner Adrian Schlüter Silber im Freiwasser über 1500 Meter gewonnen und damit für die erste Hamburger Medaille gesorgt.

Zum Gespräch mit dem Abendblatt trifft er sich an seinem wettkampffreien Tag im Gesundheitszentrum „Healty Athletes“ an der Messe. Dort kümmern sich 100 Ärzte verschiedener Fachrichtungen, 70 Zahnärzte sowie mehr als 700 Studierende um die Athleten, die eine kostenlose Rundumversorgung erhalten, was besonders für Menschen aus Ländern mit schlechter medizinischer Versorgung ein Segen ist.

„Ich finde es sehr spannend, hier so viele andere deutsche und internationale Athleten zu treffen“, sagt Leo Heckel. Die aus rund 580 Personen bestehende deutsche Delegation – 413 davon Athletinnen und Athleten – wohnt geschlossen im Hotel Park Inn am Alexanderplatz.

Hockey ist Demonstrationssport

Gespräche mit Aktiven aus anderen Ländern sind wegen der Sprachbarrieren oft nicht möglich, es werden aber fleißig Pins getauscht. „Natürlich ist die Medaille sehr wichtig, aber das Miteinander ist genauso schön“, sagt Leo Heckel.

Das empfindet auch Tom Krohn so. Der 33-Jährige ist Mitglied der Hockey-Nationalmannschaft. Hockey ist im 26 Disziplinen umfassenden Programm Demonstrationssport, die Teams treten gemischtgeschlechtlich an. Deutschland stellt zwei Mannschaften, die aber in unterschiedliche Leistungsgruppen eingeteilt wurden.

Zum Glück, findet Tom Krohn, einer von drei Hamburgern neben Verena Senger (36) und Stefan Schlehahn (39): „Wir sind so gut befreundet, da wäre es schade, wenn wir gegeneinander spielen müssten.“ Fairplay, Teamgeist und der Spaß am Sport, das seien die Dinge, die ihn antreiben.

„Und natürlich macht es am meisten Spaß, wenn man gewinnt.“ Das gelang ihm mit Team Deutschland 2 so gut, dass es am Sonnabend (10 Uhr) gegen die Niederlande um Gold geht.

Schulke hofft auf Durchbruch

All diese Erlebnisse lassen Hans-Jürgen Schulke (77) hoffen, dass die Weltspiele in Deutschland den Durchbruch für die Special Olympics bringen. Der ehemalige Sportamtsleiter engagiert sich seit 2004 für die Bewegung.

In Berlin repräsentiert er die Stadt, indem er im Sommergarten der Messe das Konzept der inklusiven Bewegungsinseln vorstellt, die Hamburg als bislang einzige deutsche Stadt anbietet – drei gibt es bereits, zwei weitere werden in Kürze eröffnet.

„Nur fünf Prozent der Beeinträchtigten sind in der Lage, Leistungssport zu treiben“, sagt er. „Wenn wir es schaffen, so viele wie möglich dafür zu begeistern, haben wir viel gewonnen.“ Und darum geht es auch bei den Special Olympics.

Ein Radsporttrainer aus Frankfurt an der Oder wurde ausgeschlossen, nachdem bekannt wurde, dass gegen ihn ein Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs läuft.