Norderstedt. Zwei Unified Teams aus Norderstedt starten bei den Weltspielen der Special Olympics. Was die Duo-Wettbewerbe so besonders macht.

Unified Team – dieser Begriff ist nicht gerade geläufig. Die meisten Menschen können im Zusammenhang mit Sport damit vermutlich erst einmal nichts anfangen. Denn mit keinen Buchstaben der Welt lässt sich beschreiben, was sich dahinter verbirgt: gemeinschaftliches Handeln im Sport. Gelebte Inklusion. Das ist der Gedanke von so genannten Unified Teams, die aus Menschen mit und ohne geistige Behinderung bestehen.

In diesem Jahr finden zum ersten Mal die Weltspiele von Special Olympics – der weltweit größten Sportveranstaltung für Menschen mit geistiger Behinderung – in Deutschland statt. Und zwei Unified Teams aus Norderstedt treten vom 17. bis 25. Juni in Berlin an. Im Segeln und im Tennis.

Special Olympics: Unified-Segler trainieren auf Kieler Förde

Die Kieler Förde ist das Trainingsrevier von Nora Neuenroth (43) und Alexander Knaub (45). Das Unified-Segel-Duo aus Kiel und Norderstedt manövriert eine Zwei-Mann-Kiel-Jolle (C 55) durchs Ostseewasser. „Das Boot kentert nicht so schnell, es gibt kein Trapez oder Spinnacker“, sagt Nora, „wir fahren nur mit Fock und Großsegel.“ Trapez oder Spinnacker werden nicht benutzt.

Bei den World Games starten beide in der Special-Olympics-Segeldisziplin Level 1. Das bedeutet: Der Unified-Partner steuert, der Athlet mit Handicap bedient das Vorsegel. Das geht hoch bis Level 5, dort ist ein Segler mit Handicap für alles an Bord verantwortlich. In Berlin sind nur die Level 1 bis 3 vertreten.

„Natürlich wollen wir eine Medaille holen, im Idealfall Gold“

Erstmals sind deutsche Athleten bei den Weltspielen im Segeln dabei. „Drei Crews haben sich qualifiziert, wir sind das einzige Level-1-Team“, sagt Alexander Knaub, der an Land die Tischlerei der Norderstedter Werkstätten verstärkt. „Die anderen Besatzungen kommen aus Niedersachsen und Bayern.“

„Natürlich wollen wir eine Medaille holen, im Idealfall Gold für Deutschland, aber du brauchst Glück. Wind ist ein Faktor“, ergänzt Nora Neuenroth, die werktags als Schiffbauingenieurin auf der Nobiskrug-Werft in Rendsburg arbeitet.

Stärken der Konkurrenten bleiben im Dunkeln

Um Chancengleichheit zu kreieren, werden bei den Special Olympics leistungsähnliche Bootsgruppen zusammengestellt. Die Größe der Gruppen entscheidet sich erst vor Ort. Stärken der Konkurrenten bleiben im Dunkeln, weil Vergleichswettkämpfe fehlen.

Die Qualifikation für die World Games hat die Segelgemeinschaft Kiel-Norderstedt auf dem Berliner Wannsee bei den Nationalen Anerkennungswettbewerben 2022 klargemacht. „Wir konnten das Feld überhaupt nicht einschätzen und haben letztlich Gold geholt“, erinnert sich Neuenroth, „zumindest die Österreicher kennen wir jetzt, die sind damals als Gäste mitgefahren.“ Der Wannsee ist auch Austragungsort für die Wettfahrten der Weltspiele im Juni. Kein schlechtes Omen.

Die Kooperation Kiel – Norderstedt existiert seit 2021

Alles fing 2018 an, als ein Segel-Ausrichter für die Nationalen Spiele der Special Olympics gesucht wurde. Der Kieler Yacht-Club winkte ab, also übernahm kurzerhand Nora Neuenroths Verein, die Segler-Vereinigung Kiel, die Ausrichtung der Wettbewerbe. „Wir hatten richtig Lust“, sagt sie. Einziger Haken: Es war überhaupt kein Kieler Team dabei. Das durfte nicht sein, und das sollte sich bald ändern.

Nora Neuenroth und Alexander Knaub teilen ihre Leidenschaft für Segeln und Basketball.
Nora Neuenroth und Alexander Knaub teilen ihre Leidenschaft für Segeln und Basketball. © Thomas Maibom

2021 fand in Kiel eine Schnupperaktion statt, organisiert von der Segler-Vereinigung. Maike Rotermund, die in Norderstedt Koordinatorin sämtlicher Special-Olympics-Sportarten ist, kutschierte acht Sportler der Norderstedter Werkstätten in die Landeshauptstadt, zwei zeigten Talent und Interesse: Alexander Knaub und Marcus Hiller. Die Kooperation Kiel-Norderstedt war geboren.

Seit April geht’s endlich wieder raus aufs Wasser

Knaub saß zunächst mit dem Kieler Gabriel Ditzinger in einem Boot. Als dieser vor den Qualifikationswettkämpfen im September 2022 ausfiel, sprang Nora Neuenroth ein. Seitdem sind sie ein Unified Team.

Jetzt stehen die Zeichen auf Weltspiele. Seit April geht es endlich wieder raus aufs Wasser zum Segeltraining. Hier kommt Maike Rotermund eine gewichtige Rolle zu: Sie fährt Knaub und Hiller einmal pro Woche mit dem Van nach Kiel, damit die Unified Teams zusammen die Segel setzen können.

Am 18. Mai findet ein Vorbereitungsseminar statt

Im Winter ist Nora Neuenroth jeden Dienstag nach Norderstedt gekommen, um den Kontakt zu ihrem Bootskameraden zu halten. Außerdem konnte sie das prächtig mit dem gemeinsamen Basketballtraining beim Inklusiven Sportverein Norderstedt verbinden.

Angesprochen auf das Thema Inklusion winkt sie ab: „Das lässt uns kalt. Für mich ist es einfach Sport, für uns ist das normal. Wir reden nicht darüber, wir machen es. Erst, wenn man nicht mehr über Inklusion spricht, haben wir unser Ziel erreicht.“ Am 18. Mai findet ein Vorbereitungsseminar für das deutsche Segelteam in Kiel-Schilksee statt. Die Programmpunkte: Wassertraining, Sport in der Halle, Theorieblöcke und Fit im Kopf.

Segel-Regelwerk ist nah dran am normalen Regatta-Betrieb

Das Regelwerk beim Special-Olympics-Segeln ist etwas weniger komplex, aber nah dran am normalen Regatta-Betrieb. Es gibt ein normales Startverfahren mit Tonnen und Startboot, Vorfahrtsregeln und Strafkringel. „Wir fahren up-and-down, segeln also vor dem Wind und gegen den Wind“, erklärt Neuenroth den Weltspiele-Kurs. Lediglich die Startlinie ist etwas länger.

„Es wird nicht ganz so eng, Berührungen mit anderen Booten sind selten, die Situationen bleiben kontrollierbar. Aber Crashs kann es immer mal geben, wenn sich was verklemmt“, sagt sie.

„Alex will es bis zum Ende rocken, und er bleibt dabei immer ruhig“

Alexander Knaub schätzt an seiner Segelpartnerin vor allem ihre immense Erfahrung: „Ich fühle mich mit ihr sehr sicher auf dem Wasser. Sie zeigt mir, wie alles funktioniert.“ Nora segelt seit 38 Jahren, knifflige Situationen meistert sie locker. „Kentern ist kaum möglich. Bei einer Schlagböe breche ich vorher ab und mache die Segel auf.“ An ihrem Teampartner bewundert sie vor allem seinen Sportgeist: „Alex will es bis zum Ende rocken, und er bleibt dabei immer ruhig.“

Unter den Sportlern im Team Norderstedt gilt Alexander Knaub als tiefenentspannt. „Innerlich geht der Puls im Boot aber schon hoch“, wirft er lachend ein. Vielleicht ja auch im Gold-Medal-Race auf dem Wannsee...

Abendblatt-Redakteurin startet in Berlin im Tennis-Mixed-Doppel

Es gibt Dinge im Leben, die existieren in der eigenen Wahrnehmung nicht. Weil sie zu abwegig sind, um darüber nachzudenken. Jemals als Freizeitsportler für Deutschland anzutreten, ist so eine Sache. Daher ist es für Abendblatt-Redakteurin Annabell Behrmann (30) immer noch verwunderlich, dass genau das jetzt passiert.

Dass sie, die Verbandsliga-Tennisspielerin des TSC Glashütte, im Sommer bei Weltspielen antritt – gemeinsam mit ihrem Mixedpartner Christian Schlaikier (48) von den Norderstedter Werkstätten.

Emotionale Augenblicke bei der Einkleidung der deutschen Mannschaft

Offiziell hat er ein Handicap – sie nicht. Doch für beide spielt das keine Rolle. Weder auf dem Tennisplatz, noch in ihrer Freundschaft, die sie inzwischen haben. Vor ein paar Wochen haben sie ihre offizielle Teamkleidung bekommen: „Und plötzlich trägst du den Bundesadler auf der Brust“, sagt Annabell Behrmann.

Christian Schlaikier hat schon bei Leichtathletik-Europameisterschaften für den Deutschen Behindertensportverband mit Kugel, Speer und Diskus geglänzt, doch die World Games sind auch für ihn ein neues Pflaster. Die Nervosität steigt. „Ich rede die ganze Zeit über die Weltspiele“, verrät er.

Wie die Chancen stehen, lässt sich noch nicht einschätzen

Auf welche Gegner das Unified-Mixed-Doppel ab Mitte Juni bei den World Games trifft, entscheidet sich erst vor Ort. In kurzen Pre-Matches wird die Spielstärke ermittelt, so dass sich, wie bei allen Weltspiele-Sportarten, möglichst ebenbürtige Gegner gegenüberstehen. Schlaikier würde liebend gern eine Medaille gewinnen, doch wie die Chancen stehen, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich abschätzen.

Besuch beim Training des Duos Behrmann/Schlaikier: Christians erster Aufschlag kommt mit Wumms und wirbelt ordentlich rote Asche im T-Feld auf. Annabells beidhändige Rückhand ist eine Augenweide. Beide harmonieren ausgezeichnet, feuern sich gegenseitig an und spielen etwa auf einem Level. Darauf kommt es bei den Weltspielen an. Fairness und Harmonie sind wichtige Elemente beim Unified Tennis.

Beim Unified-Tennis gibt es einen strengen Verhaltenskodex

Neben dem üblichen Schiedsrichter achtet ein neutraler Beobachter genau auf das Spielverhalten und Miteinander eines jeden Tennis-Duos. Der Spieler ohne geistiges Handicap darf nicht zu sehr herausstechen und dominieren; Vergehen gegen diesen Verhaltenskodex werden umgehend geahndet. Die Sanktionen reichen von seichten Hinweisen bis hin zur Disqualifikation.

Um sich optimal auf das Großereignis vorzubereiten, hat Annabell Behrmann ihre Teamkolleginnen vom TSC Glashütte als Sparringspartnerinnen rekrutiert. „Mein Vater und mein Freund mussten auch schon als Doppelgegner herhalten“, sagt sie lachend.

Sparringspartnerinnen simulieren auf dem Court den Ernstfall

Daniela (26) und Jessica Schaefer (24) simulieren bei einer Trainingseinheit den Ernstfall. Die Schwestern powern die gelben Filzbälle gekonnt übers Netz und geben den Unified-Sportlern so die Option, sich den nötigen World-Games-Feinschliff zu holen. Im Match streut Christian Schlaikier gefühlvolle Stoppbälle ein und feiert einige Asse. Berlin kann kommen.

Trainingseinheit beim TSC Glashütte: Das Unified-Tennis-Team Christian Schlaikier und Annabell Behrmann mit den beiden Sparringspartnerinnen Jessica und Daniela Schaefer (v. l.).
Trainingseinheit beim TSC Glashütte: Das Unified-Tennis-Team Christian Schlaikier und Annabell Behrmann mit den beiden Sparringspartnerinnen Jessica und Daniela Schaefer (v. l.). © Timo Reinke

Ob das vor vollen Rängen und lauter Kulisse auch so reibungslos funktioniert, steht auf einem anderen Blatt. Spätestens, wenn es um Medaillen geht, wird die Anlage gut gefüllt sein, TV-Kameras fangen Live-Bilder ein, die um den ganzen Globus gehen. „Ich blende das komplett aus und konzentriere mich auf mein Spiel“, sagt Schlaikier, der über die Norderstedter Werkstätten im Logistik-Bereich bei der Firma Jungheinrich eingesetzt wird.

Quualifikation für die Weltspiele gelang vor einem Jahr

Die Familien der beiden Tennis-Asse werden in jedem Fall unter den jubelnden Fans auf der Tribüne sein, die Akkreditierungen sind schon da. Das Weltspiele-Ticket hat sich das Mixed bei den Nationalen Spielen vor einem Jahr in Berlin durch den Erfolg im Qualifikationsturnier geholt.

Schade nur, dass Annabell Behrmann die Siegerzeremonie wegen einer Corona-Erkrankung verpasste und die Goldmedaille nicht selbst in Empfang nehmen konnte.

Norderstedter Gespann ist mittlerweile eng zusammengewachsen

Für ihren Partner kein Zustand: Christian Schlaikier packte das Gold ein und überraschte Behrmann einige Wochen später an ihrem 30. Geburtstag vor versammelter Gästeschar mit einer improvisierten Rede – und überreichte Annabell feierlich ihre Auszeichnung.

Ein emotionaler Moment, der zeigt, wie eng dieses Norderstedter Gespann mittlerweile zusammengewachsen ist. Das zeichnet den Unified Sport aus. Kennengelernt haben sich beide 2018, als Annabell Behrmann für das Abendblatt über die Sportler der Norderstedter Werkstätten berichtete.

Unified-Tennisteam schlägt seit zwei Jahren gemeinsam auf

Maike Rotermund, Trainerin und Spe­cial-Olympics-Begleiterin der ersten Stunde, stellte den Kontakt her und ebnete so den Weg. „Maike wusste, dass ich beim TSC Glashütte in der Damenmannschaft spiele, sie hat uns zusammengeführt“, erinnert sich Behrmann.

Seit September 2021 stehen sie und ihr Doppelpartner gemeinsam auf dem Court. „Annabell ist ein toller Mensch mit dem gewissen Etwas, sie überträgt auf mich die Freude am Tennis“, schwärmt Christian. Behrmann strahlt: „Christian ist für mich auch abseits des Platzes ein richtig guter Freund geworden.“

Das deutsche Aufgebot trifft sich in Dortmund zum Trainingslager

Bei den Weltspielen in Berlin gehen für Deutschland 14 Tennis-Cracks an den Start, drei davon sind Unified-Partner, so wie Annabell Behrmann. Gemeinsam mit Christian Schlaikier bildet sie das einzige Team aus Schleswig-Holstein.

Das deutsche Aufgebot trifft sich an diesem Wochenende in der Nähe von Dortmund zum finalen Trainingslager – dort schwört sich der Kader noch mal ein. In solchen Camps entsteht das für die Wettkämpfe so wichtige Wir-Gefühl, die Truppe wächst emotional zusammen.

Special Olympics: Christian Schlaikier kann zweimal Edelmetall holen

Und mit welchen Ambitionen tritt das Mixed beim Großereignis in Berlin an? Beide sind sich einig: „Natürlich sind wir glücklich, dabei zu sein, alles andere ist Bonus.“ Christian Schlaikier hat sogar zwei Gelegenheiten auf eine Medaille; er konnte sich dank des zweiten Platzes bei den Nationalen Spielen 2022 auch für die Einzel-Konkurrenz qualifizieren.

Unified heißt übrigens übersetzt: einheitlich. Für Annabell und Christian gibt es keinen besseren Begriff. Denn sie und Christian sind auf dem Platz eine Einheit.