Hamburg. Marco Haller beschert dem Bora-Team bei den Cyclassics in Hamburg einen Heimsieg. Ein schwerer Sturz wirbelt das Feld durcheinander.

Wout van Aert war ziemlich geknickt, als er am späten Sonntagnachmittag hinter der Bühne mit dem Siegerpodest am Rande der Mönckebergstraße saß. „Wenn man vor dem Ziel in der ersten Gruppe ist, will man natürlich auch gewinnen. Dass es nicht funktioniert, ist enttäuschend“, sagte der belgische Rad-Superstar.

In einem packenden Zielsprint einer Fünfergruppe hatte der österreichische Außenseiter Marco Haller das Profirennen der Hamburger Cyclassics für sich entschieden, nach 204 Kilometern, 4:37,23 Stunden reichte dem 31-Jährigen vom deutschen Team Bora-hansgrohe eine Hundertstelsekunde für den größten Erfolg seiner bisherigen Karriere.

Cyclassics in Hamburg: Haller streicht Preisgeld ein

„Unglaublich! Ich meine, jeder kennt Hamburg als eines der wichtigsten Rennen im Jahr. Ich freue mich natürlich riesig. Zum einen für die Mannschaft und zum anderen weil ich erst einen World-Tour-Sieg habe – und der liegt mit 2012 schon etwas zurück“, sagte Jubiläumssieger Haller, der durch den Sieg bei der 25. Ausgabe des Radsportklassikers auch noch 16.000 Euro Preisgeld einstrich.

Van Aert (27/Jumbo-Visma) hatte wie sein gleichaltriger belgischer Landsmann Quinten Hermans (Wanty-Gobert), der Dritter wurde, das Nachsehen – und war im Ziel äußerst selbstkritisch. „Ich wurde ein bisschen überrascht, der Move von Haller war wirklich klug. Ich habe gerade zur anderen Seite geschaut, als er kam. Vielleicht war es auch ein kleiner Anfängerfehler“, sagte der diesjährige Sieger des grünen Trikots der Tour de France.

van Aert im Finale auf sich allein gestellt

Weil 30 Kilometer vor dem Ziel ein großer Teil des Hauptfeldes und fast das gesamte Jumbo-Visma-Team in einen Massensturz – glücklicherweise ohne schwerere Verletzungen – verwickelt wurde, war van Aert im Finale auf sich allein gestellt. „Ohne den Unfall hätten wir viel mehr Leute gehabt, um das Renntempo hochzuhalten“, sagte der 27-Jährige, der bei der dritten Überquerung des 16 Prozent steilen Wasebergs in Blankenese das Tempo wie erwartet angezogen hatte.

„Ich habe jetzt noch mal auf den Computer geguckt. Es waren für eine Minute 825 Watt notwendig, um die Lücke zu van Aert zu schließen. Also war es schon recht sportlich“, sagte Sieger Marco Haller und lachte. Bester Deutscher beim Comeback der Cyclassics nach zwei Jahren Pandemie-Pause war Phil Bauhaus (28/Bahrain Victorious) mit zehn Sekunden Rückstand auf Platz sieben, der Bocholter kam in der großen Verfolgergruppe ins Ziel.

Amateure starteten schon um 7 Uhr

Deutlich früher als die Profis mussten am Sonntagmorgen die Amateure aufstehen, die bereits um 7 Uhr auf die 60 Kilometer und um 8.15 Uhr auf die 100 Kilometer große Runde starteten. Unter den etwa 12.000 Teilnehmenden – in Spitzenjahren waren es bis zu 20.000 – befanden sich rund 40 Prozent Erststarter. Darunter war auch die gebürtige Namibierin Sabine von Oppen.

„Ich wollte eigentlich schon vor der Pandemie bei den Cyclassics dabei sein. Vor vier Wochen habe ich mich dann spontan entschieden, hier mitzumachen. Ich hatte Glück, dass ich mich nachmelden konnte“, erzählte sie. „Ich fand es richtig cool. Jeder jubelt, alle haben gute Laune. Meine größte Angst war, zu stürzen. Aber das war zum Glück nicht der Fall.“

Beim Radrennen gab es auch Kritik

Unter die positive Resonanz der Teilnehmenden mischte sich allerdings auch Kritik. Während manche Starter die Kommunikation im Vorfeld des Rennens nicht zufriedenstellte, bemängelten andere nur dürftig gefüllte Starterbeutel. Oliver Schiek, Geschäftsführer der veranstaltenden Ironman Germany GmbH konnte die Kritik verstehen.

„Das kann man so sehen. Am Ende des Tages ging es für uns aber vor allem um das Motto ‚Back to Racing‘. Es war extrem wichtig, dass wir das Rennen an den Start kriegen“, sagte Schiek. „Um es mal ein bisschen despektierlich zu sagen: Da war mir im Zweifel irgendeine Luftballon-Aktion nicht so wichtig.“

„Die 100 Kilometer fahre ich etwa zweimal pro Woche“

Dass der Rahmen beim 25. Jubiläum ein bisschen zu klein ausfiel, fand auch Ulrich Stubbe. Der 73-Jährige aus Billwerder zählte mit seinem Bruder Walther zu insgesamt 22 Startern, die noch keine Ausgabe der Cyclassics verpasst haben. Die 100 Kilometer schaffte er in einer Zeit von zwei Stunden und 42 Minuten. Kaputt habe er sich nicht gefühlt: „Die 100 Kilometer fahre ich etwa zweimal pro Woche.“ Bis zum ältesten Fahrer, dem 85 Jahre alten Reinhold Wolter, fehlen ihm noch zwölf Jahre. Wolter schaffte die 60 Kilometer in 2:37,24 Stunden.

Dass weniger Amateure als angekündigt am Start standen, enttäuschte Veranstalter Schiek nicht – im Gegenteil: „Die 14.000 Anmeldungen waren für mich ein bisschen der Blick in eine Glaskugel. Die 12.000 machen mich jetzt extrem happy, weil ich ein bisschen Angst gehabt habe, dass es weniger werden.“ Der Veranstalter schätzte über das gesamte Wochenende zudem rund 400.000 Zuschauer.

Cyclassics 2023 soll 160-Kilometer-Strecke beinhalten

Bei der nächsten Ausgabe der Cyclassics, die voraussichtlich Ende August 2023 stattfinden soll, will Schiek auch wieder die 160-Kilometer-Strecke für die Amateure anbieten, die in diesem Jahr wegen Unstimmigkeiten über Streckensperrungen in Schleswig-Holstein ausfallen musste. Auch andere Ideen, wie beispielsweise ein Gravel-Rennen über Schotter würde Schiek „persönlich sehr gefallen“.

Für Marco Haller ging es noch am Sonntagabend zur am Mittwoch startenden Deutschland-Tour nach Weimar. „Wir haben eine lange Busfahrt vor uns“, sagte Haller, ehe er grinsend versprach: „Ich werde mir aber auch ein Bier aufmachen.“

Amateure: Beim 60-Kilometer-Rennen gewann Stefan Brechler (1:17:34 Stunden), die schnellste Frau war Janina Rumker (1:24:14). Über 100 Kilometer triumphierte Sebastian Zoschke (2:07:04) und bei den Frauen Rosa Klöser (2:07:06).