Hamburg. Am Bundesstützpunkt herrscht personell und strukturell große Ungewissheit. Was schief läuft und wie die Probleme gelöst werden sollen.

Wie aussichtsreich sie war, die gute, alte Zeit, daran wird Tobias Müller in den kommenden Wochen erinnert werden. Aus den USA, wo sie seit vergangenem Jahr studieren, reisen Freistilspezialistin Julia Mrozinski (22) und Allrounder Björn Kammann (21) an. Das Duo möchte sich bei seinem ehemaligen Coach am Bundesstützpunkt (BSP) Schwimmen im Hamburger Dulsbergbad auf die Europameisterschaften vorbereiten, die vom 11. bis 21. August in Italiens Hauptstadt Rom ausgetragen werden. „Ich freue mich drauf, mit ihnen zu arbeiten. Dass sie zurückkommen, zeigt mir, dass unsere gemeinsame Zeit eine gute war“, sagt Landestrainer Müller.

Schwimmen: Olympia-Stützpunkt übernimmt kommissarische Leitung

Das allerdings wird nicht mehr von allen mit dem BSP befassten Parteien so gesehen. Spätestens seit sich Bundesstützpunkttrainer Veith Sieber im vergangenen Monat mit dem Deutschen Schwimm-Verband (DSV) auf eine Auflösung seines unbefristeten Arbeitsverhältnisses zum 30. Juni geeinigt hat, herrscht große Ungewissheit. Die Vakanz auf der wichtigsten Trainerposition ist dabei nur eins der Probleme. Als Einziger der fünf nationalen BSP – neben Hamburg sind dies Berlin, Potsdam, Magdeburg und Essen – hat Hamburg keinen BSP-Leiter. Die Aufgaben werden kommissarisch von der Leitung des Olympiastützpunktes (OSP) übernommen, de facto aber müssen die Coaches die administrativen Pflichten zusätzlich zu ihrer Trainingsarbeit erbringen.

Genauso schwer wiegt der Aderlass an Leistungsträgern. Der zweifache Olympiateilnehmer Jacob Heidtmann (27), der mittlerweile zurückgekehrt ist und seinem Studium Vorrang gibt, war im September 2019 der Erste aus der Trainingsgruppe Siebers, der den Weg in die USA ging. Mittlerweile sind mit Mrozinski, Kammann, Freistilspezialist Rafael Miroslaw (21) und der bei den Olympischen Spielen in Tokio mit der Freistilstaffel angetretenen Hannah Küchler (20), die im Sommer nach Übersee wechselt, die größten Zukunftshoffnungen seinem Beispiel gefolgt.

Kein Wunder also, dass im DSV die Alarmglocken schrillen. Leistungssportdirektor Christian Hansmann sagt: „Wenn es so viele Abgänge auf einmal gibt, muss man sicherlich hinterfragen, welche Gründe es für diese Entwicklung gibt und wie man den Stützpunkt dort zukünftig wieder stark aufstellen kann.“ Auf der Suche nach diesen Gründen landet man indes schnell bei dem über Monate schwelenden Streit zwischen Sieber und dem Dachverband, der dazu führte, dass der Coach mehrere Monate arbeitsunfähig war. Aus arbeitsrechtlichen Gründen darf sich der bis Ende Juni bei vollen Bezügen freigestellte Übungsleiter nicht öffentlich äußern. Dass er sich in Zwistigkeiten aufgerieben hat, die mit seinem arbeitsintensiven Alltag nicht kompatibel waren, verhehlt er nicht. Ebenso trug die in Hamburg während der Lockdowns sehr restriktive Politik dazu bei, dass der Arbeitsaufwand wuchs und Talente die Motivation verloren.

Personelle Fluktuationswelle schwappte durch das Dulsberg-Bad

Dennoch ist der Stimmungswandel, der in den vergangenen 24 Monaten am Hamburger BSP vollzogen wurde, kaum zu erklären. Noch im Mai 2020 war Sieber zum Trainer des Jahres im Hamburger Sportbund (HSB) gekürt worden. Sein Konzept, mit seinem Team auf ein eng verzahntes Ausbildungssystem mit der Eliteschule des Sports am Alten Teichweg zu setzen und Talente auf den Kurz- und Mittelstrecken vom Beginn ihrer Karriere an zu begleiten, wurde von allen Partnern – Hamburger Schwimmverband, HSB, OSP – mitgetragen.

Dass sich mit Küchler nur eine Hamburgerin für Tokio qualifizierte, war, das räumen alle Beteiligten ein, unbefriedigend, aber teilweise auch großem Pech geschuldet. So fiel Miroslaw wegen einer durch verheimlichtes Krafttraining verschleppten Schulterblessur aus, Mrozinski wurde in der Qualifikationsphase mehrere Wochen von Corona lahmgelegt. Die Leistungen der beiden, die sich in diesem Jahr souverän für die Saisonhöhepunkte qualifizierten – Miroslaw mit deutschen Rekord über 100 Meter Freistil für die WM im Juni in Budapest, Mrozinski und auch Kammann für die EM – sprechen eine deutliche Sprache dafür, dass die Ausbildung der vergangenen Monate keine schlechte war.

Das Abwandern in die USA ist angesichts der finanziell überzeugenden Stipendiumsangebote auch nur sehr bedingt den Umständen in Hamburg anzulasten. Die Mehrheit der Trainingsgruppe stand hinter Sieber, dem von der OSP-Leitung allerdings Führungsschwäche angelastet wurde. Sein Abgang war letztlich der Höhepunkt einer Fluktuationswelle, die durch das Dulsbergbad schwappte. Tobias Müller, seit 2014 im Amt und vom OSP angestellt, ist nun nicht nur der einzige aus Siebers Ursprungsteam verbliebene, sondern auch der mit Abstand dienstälteste Trainer. Ihm folgt der Anfang Oktober 2021 eingestellte OSP-Trainer Nikolaj Jewsejew.

Noch kürzer sind der für den in den Schulbetrieb abgewanderten Enno Wessoly eingestellte Dennis Brocks und Athletiktrainer Niels Nürnberger als Nachfolger Christoph Stubers dabei. Die Stelle der abgewanderten Nachwuchstrainerin Maria Rücker ist ebenfalls vakant.

Der Glaube an den Schwimm-Standort Hamburg ist noch da

Dabei sind sich alle Beteiligten einig, dass die infrastrukturellen Bedingungen in Hamburg weiterhin vorzeigbar sind. Auch wenn die vor 30 Jahren errichtete Gegenstromanlage zuletzt häufig kaputt war, „sind wir vielleicht nicht das Nonplusultra, aber weit entfernt von schlecht“, sagt Tobias Müller. Der 32-Jährige glaubt deshalb auch weiterhin an eine erfolgreiche Zukunft, sofern die notwendigen Rahmenbedingungen – vor allem die Einstellung eines BSP-Leiters – geschaffen werden. Mit Langstreckenspezialist Silas Beth (19), den Rücken-Assen Sonnele Öztürk (24) und Cornelius Jahn (19) sowie Schmetterlingshoffnung Tobias Schulrath (19) seien vielversprechende Talente vorhanden. Das sieht auch DSV-Leistungssportdirektor Hansmann so: „Das Potenzial dafür ist fraglos vorhanden. Deswegen sehe ich diesen Neuanfang vor allem als Chance. Es gilt nun für uns und unsere Partner, eine Entwicklung anzustoßen, die Hamburg in den kommenden Jahren den Status als Bundesstützpunkt sichert“, sagt er.

Dieser läuft mit den Olympischen Sommerspielen in Paris 2024 aus. Eine Aberkennung hätte harte Folgen, Stellen und finanzielle Förderung würden wegfallen. „Wir brauchen aber nicht weniger, sondern mehr Personal und mehr Geld, wenn wir erfolgreich arbeiten wollen“, sagt Tobias Müller. Er selbst hat lange überlegt, ob er sich auf Siebers Stelle bewerben solle, hat es aber getan. Die Frist läuft an diesem Montag aus, wann der DSV entscheidet, ist unklar.

Die OSP-Leitung hält Müller für den fachlich qualifiziertesten Trainer am BSP, dem allerdings nationale Strahlkraft fehle. Müller selbst glaubt, dass es wichtiger sei, in der jetzigen Lage einen Chefcoach zu haben, der die Strukturen in Hamburg kenne. Er seit bereit, die vom DSV gewünschte Ausweitung auf Mittel- und Langstrecke in das Konzept zu integrieren. Die aktuellen Umstände sprächen zwar nicht dafür, mittelfristig erfolgreich arbeiten zu können. „Es ist ein Riesenbrett, vor dem ich Respekt habe. Aber ich traue es mir zu, weil ich sehr belastbar bin und strukturiert arbeite“, sagt er. Seine Belastbarkeit stellt er als kommissarischer Nachfolger Siebers seit Wochen unter Beweis. Und dass er sie brauchen wird, sollte er ausgewählt werden, ist sicher.