Hamburg. Der zweimalige Olympiasieger im Kanurennsport, über seinen Weg in die nächste Karriere und die Probleme des deutschen Sports.

Sein Auftritt bei der Hamburger Sportgala am vergangenen Montagabend war eine Herzensangelegenheit. „Eine Laudatio auf Edina zu halten ist eine Ehre für mich. Es ist großartig, was sie in ihrer Karriere geschafft hat, sie ist ein Aushängeschild für unseren Sport“, sagt Ronald Rauhe, der aus seiner Heimat Falkensee nahe Berlin angereist war, um Paralympics-Siegerin Edina Müller (38) als Hamburgs Sportlerin des Jahres auszuzeichnen. Im Abendblatt spricht der 40-Jährige, mit fünf olympischen, 26 WM-, 27 EM-Medaillen sowie 67 deutschen Meistertiteln selbst eine Ikone des Kanurennsports, über seinen Weg ins Leben nach dem Leistungssport.

Herr Rauhe, wie hart trifft Sie auf Veranstaltungen wie der Sportgala, wo andere für ihre Leistungen geehrt werden, die Erkenntnis, dass Ihnen diese Bühne nun fehlt?

Ronald Rauhe: Gar nicht so hart, wie manche vermuten. Die Bühne war mir nie wichtig. Ich habe Aufmerksamkeit natürlich genossen, Zuspruch von außen tut immer gut. Aber der Antrieb dafür, dass ich Leistungssport betrieben habe, waren Leidenschaft und Spaß.

Sie haben Ihre Karriere im August nach den Sommerspielen in Tokio beendet, als Olympiasieger im Viererkajak und Fahnenträger auf der Abschlussfeier. Als es vorbei war, wirkten Sie regelrecht erleichtert. Warum?

Weil die Entbehrungen, die meine Familie und ich in der Vorbereitung auf uns genommen haben, wirklich hartes Brot waren. Als ich 2016, nach den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro, entschieden habe, noch einen Zyklus bis Tokio weiterzumachen, haben meine Frau und ich die Devise aufgestellt, dass ich niemals länger als drei Wochen von ihr und meinen beiden Söhnen getrennt sein wollte. Wegen Corona ließ sich das in den Monaten vor Tokio nicht einhalten, weil wir uns im Team isolieren mussten. Deshalb gab es sehr lange Phasen, in denen ich die Familie nicht sehen konnte. Das hat uns alle sehr zermürbt.

Was geschieht in dem Moment, in dem man die Ziellinie des letzten Rennens überquert und weiß: Das war es jetzt?

Bei mir hat sich eine Anspannung gelöst, von der ich gar nicht mehr wahrgenommen hatte, wie stark sie wirklich war. Als Ältester im Team hatte ich die Aufgabe, darauf zu achten, alle Baustellen, die es in so einer Gruppe während der langen Monate der Vorbereitung gibt, im Griff zu behalten. Nachdem das letzte Rennen beendet war und ich mein zweites Olympiagold um den Hals hängen hatte, ist so viel von mir abgefallen, und ich glaube, das haben mir auch alle angesehen.

Den richtigen Zeitpunkt für das Karriereende zu finden ist eine Aufgabe, an der sehr viele Leistungssporttreibende scheitern. Wie haben Sie sich darauf vorbereitet?

Ich hatte riesigen Respekt davor, weil man nicht wissen kann, wie das Leben nach 25 Jahren Leistungssport weitergehen wird. Als 40-Jähriger mit zwei Kindern geht man so einen Übergang sicherlich auch anders an als mit 25 und ohne Verpflichtungen. Ich wollte unbedingt vor dem Abschied eine Lösung für das Leben nach dem Sport haben. Aber dann habe ich gespürt, dass ich keine Energie dafür aufwenden konnte und wollte, mich mit dem Ziel für die Zeit nach dem letzten sportlichen Ziel zu beschäftigen.

Wie haben Sie die Angst vor dem Loch empfunden, in das Athletinnen und Athleten nach dem Karriereende zu fallen drohen?

Diese Angst war in den Monaten vor Tokio durchaus groß. Meine größte Sorge war, dass ich nie wieder etwas mit so viel Leidenschaft machen könnte wie meinen Sport. Natürlich habe ich gehofft, einen Beruf zu finden, in dem das möglich ist, aber ich wusste, dass dieser Gedanke naiv ist. Zum Glück hatte ich immer schon ein tolles Umfeld, das mich aufgefangen und mir Sicherheit gegeben hat. Allen voran meine Frau Fanny, die selbst Leistungskanutin war und deshalb sehr genau verstanden hat, wie es mir ging. Wie sie mir den Rücken frei gehalten und die Familie gestärkt hat, war unglaublich. Sie ist die eigentliche Heldin.

Ein schöneres Karriereende als mit Olympiagold und als Fahnenträger ist kaum vorstellbar. Wie war es für Sie?

Es war wie ein Film, den man wohl als Schnulze bezeichnen würde. Ich war sehr berührt von der Möglichkeit, die Fahne zu tragen, diese Momente bleiben für die Ewigkeit, trotz der coronabedingten Begleitumstände. Die Goldmedaille gab mir die Möglichkeit, der Familie zu zeigen, dass sich all die Entbehrungen gelohnt haben. Emotional konnte ich einen Haken hinter alles machen. Vor allem aber habe ich dadurch eine Aufmerksamkeit erhalten, die mir all meine sportlichen Erfolge zuvor nie gegeben haben. Es haben sich Türen geöffnet, von denen ich nicht mal geahnt hatte, dass es sie gibt. Zeit meiner Karriere habe ich alle Anfragen selbst bearbeitet. Nach Olympia wurden es so viel, dass ich mich überfordert fühlte. Jetzt habe ich ein Management, das mir diese Aufgaben abnimmt. Ich bin mit großer Unsicherheit ins Leben nach dem Sport gestartet, aber jetzt bin ich happy damit. Es gab keinen Tag, an dem ich nichts zu tun hatte.

Was würden Sie jüngeren Athletinnen und Athleten raten, um sich auf den Übergang in die nächste Karriere vorzubereiten?

Dass sie sich während der Sportkarriere weiterbilden. Ich habe Sport und Management studiert, was für den Kopf ein wichtiger Ausgleich war. Und ich rate allen: Traut euch, Sachen anzupacken, auch wenn ihr nicht wisst, wie sie sich entwickeln. Auch die Erkenntnis, was man nicht tun will, hilft.

Sie haben Ihre Erkenntnisse genutzt, um sich selbstständig zu machen mit dem Unternehmen Fairmily, das sich für Ernährungscoaching in Familien einsetzt. Was reizt Sie daran?

Der Anstoß dazu war, dass mir mein Sohn erzählte, was die anderen Kinder in seiner Klasse so in ihren Brotboxen mitbringen. Da wurde mir klar, wie wichtig das Thema Ernährung ist. Mein Geschäftspartner und ich, wir wollen uns von Grund auf mit dem Thema beschäftigen, wir setzen auf regionale, biologische, fair gehandelte Produkte und auf Hilfe zur Selbsthilfe. Der Antrieb ist nicht das Geldverdienen, sondern die Idee dahinter.

Fairmily ist nicht Ihr einziges Projekt. Sie sind bei der Bundeswehr als Bindeglied zur Sporthilfe engagiert. Was tun Sie da?

Nach 20 Jahren als Sportsoldat hat mir die Bundeswehr die Chance gegeben, als Berufssoldat übernommen zu werden. Sie arbeitet in enger Kooperation mit der Sporthilfe, um den Service und die Unterstützung für Athletinnen und Athleten zu optimieren. Ich bin die Schnittstelle dazwischen und versuche, mit meiner Erfahrung zu helfen und damit einiges von dem zurückzugeben, was ich an Förderung erhalten habe.

Haben Sie als Berufssoldat in diesen Zeiten keine Sorge davor, in Auslandseinsätze entsendet zu werden?

Meine Gedanken unterscheiden sich da wahrscheinlich nicht von denen, die die meisten Bürgerinnen und Bürger auch haben. Selbstverständlich denke ich darüber nach, was passiert, wenn wir an der Reihe sind. Aber ich habe einen Eid geleistet, die Bundesrepublik zu verteidigen, wenn es dazu kommen muss, und zu diesem Eid stehe ich. Darüber sollte sich jeder, der als Sportsoldat in die Bundeswehr eintritt, bewusst sein. Wir erhalten großartige Unterstützung, haben im Gegenzug aber auch Pflichten. Ich bin bereit, diese zu erfüllen.

Wie sieht es aus mit einem Amt im Spitzensport, sei es als Trainer oder als Funktionär. Reizt Sie das?

Aktuell nicht. Ich hatte tatsächlich schon verschiedene Anfragen, aber habe die Trainerlaufbahn zunächst ausgeschlagen, weil ich aus dieser Mühle heraus wollte, in der man als Trainer noch tiefer drinsteckt als als Athlet. Über ein Amt im Verband habe ich nachgedacht, ich habe dem Verband auch Vorschläge unterbreitet, wie ich meine Expertise einbringen könnte. Aber da gab es wenig Resonanz, und diese Trägheit hat mich sehr geärgert, weil ich weiß, dass es nicht nur mir so ging, und dem Verband dadurch gute Leute verloren gehen, die viel bewirken könnten.

Tatsächlich bräuchte der deutsche Sport angesichts der Herausforderungen unserer Zeit und der schwachen Tokio-Bilanz frische Ideen. Wie groß ist Ihre Sorge, dass der deutsche Sport den Anschluss verliert?

Die ist für die nächsten Jahre schon groß. Das Hauptproblem ist, dass der gesellschaftliche Stellenwert des Sports in den vergangenen Jahren stark gelitten hat. Jede noch so durchdachte Leistungssportreform hilft nichts, wenn man Konzepte nicht mit Leben erfüllt. Leider wird der Wert, den Sport nicht nur für die Gesunderhaltung hat, sondern vor allem auch für die Integration und das Miteinander der Gesellschaft, von vielen nicht oder nicht mehr erkannt. Wir waren in puncto Gemeinschaftsgefühl und respektvolles Miteinander schon mal deutlich weiter als aktuell. Gerade in Krisen ist Sport ein extrem belebendes, verbindendes Element. Ich stecke viel Energie hinein, um das Bewusstsein dahingehend zu verändern.

Was würden Sie tun?

Zum Ersten müssen wir Menschen den Zugang zum Sport deutlich erleichtern. Schon im Kindesalter müssen wir ansetzen und viel früher und gezielter Bewegung fordern und fördern, um eine Basis für Sportbegeisterung zu legen. Zum Zweiten brauchen wir viel mehr und bessere Übungsleiter, da sind wir in vielen Sportarten leider an einem Punkt, wo alles ins Rutschen gerät und große Lücken klaffen. Zum Dritten müssen wir uns in Deutschland trauen, Helden zu kreieren. Wir sind, wahrscheinlich angesichts unserer Vergangenheit, sehr vorsichtig damit, stolz auf unser Land und unsere Leistungen zu sein. Aber es braucht diese Vorbilder. Auf diesen drei Feldern ist die Politik gefordert, Signale zu setzen, um den Sport nachhaltig zu stärken.

Das klingt fast wie eine Bewerbungsrede. Wie viel von dem Ehrgeiz, der Sie in Ihrer sportlichen Karriere zu Höchstleistung getrieben hat, bringen Sie in Ihre neuen Projekte ein?

Meinen Ehrgeiz kann ich nicht ablegen. Ich liebe Herausforderungen in allen Bereichen des Lebens. Mir geht es darum, die Werte, die ich verkörpere, und all das, was ich im Sport gelernt habe, weiterzutragen. Ich schließe keinesfalls aus, in Zukunft auch im Sport Aufgaben zu übernehmen, aber aktuell habe ich Lust, in andere Bereiche einzutauchen und weitere Talente zu entdecken, die in mir schlummern.

Treiben Sie noch regelmäßig Sport?

Ich habe tatsächlich nach Olympia lange gar nichts gemacht außer Hobbysport wie Skifahren, wozu ich früher nicht kam. Aber es ist meinem Herz-Kreislauf-System nicht gut bekommen, nicht regelmäßig zu trainieren. Ich muss mir Sport allerdings in den Kalender eintragen, damit ich auch wirklich dazu komme. Ich sitze auch wieder im Boot, spiele mit meinen Jungs, mit denen ich als Jugendlicher im Kanupolo aufgewachsen bin, im Ligabetrieb mit. Wir sind tatsächlich so gut, dass wir kurz vor dem Aufstieg in die Bundesliga stehen. Das macht mir großen Spaß. Kanurennen bin ich aber noch nicht wieder gefahren.

Glauben Sie, dass Ihnen das fehlen wird, wenn die Saison wieder startet?

Das ist tatsächlich die letzte Unbekannte. Ich weiß es nicht, wie sehr es mich schmerzen wird, dabei zuzuschauen, wie die anderen zu Wettkämpfen antreten. Aber mein Gefühl sagt, dass ich meinen Frieden damit gemacht habe.