Hamburg. Warum der Hamburger Extremläufer Selcuk Erdönmez zum dritten Mal beim Marathon des Sables startet – und was seine Familie sagt.

Ende Oktober 2021 kommt eine WhatsApp-Nachricht von Selcuk Erdönmez. Im Anhang ein Zeitungsausschnitt mit der Überschrift „Der Tod läuft mit“, in dem über das Ableben eines französischen Ultraläufers beim Marathon des Sables berichtet wird. Was für die allermeisten Menschen eine Warnung wäre, ist für Selcuk Erdönmez eine Motivation. Er schreibt: „Beim MDS 2021 ist ein Läufer verstorben. Ich bereite mich für 2022 vor …“

Gut vier Monate später sitzt der 44-Jährige in seinem Haus in Marienthal und nippt an seinem Kaffee. Draußen sticht die Frühlingssonne durch die Hamburger Winterwolken, drinnen wuseln die beiden Töchter Lina (4) und Sara (2) durch den Wohnbereich. Der sechs Monate alte Sohn Selim schlummert selig auf dem Arm seiner Mutter Elif. Auf die Frage, warum er sich die Höllenqualen in der Sahara antun will, atmet Selcuk Erdönmez tief durch, bevor er seine Antwort formuliert. „Ich mache es für die Kinder. Ich will ihnen die Botschaft senden, dass jeder Mensch mit seiner Willensstärke alles erreichen kann.“

Marathon de Sables ist berüchtigt in der Extremläuferszene

Der Marathon des Sables (MDS) zählt in der Extremläuferszene zu den härtesten Prüfungen, die ein Mensch seinem Körper abverlangen kann. Über sechs oder sieben Etappen – den genauen Verlauf erfahren die Teilnehmenden erst auf der Anfahrt – müssen sie rund 250 Kilometer durch die Wüste zurücklegen. Das Gepäck wird mitgetragen, der Rucksack darf nicht leichter als 6,5 und nicht schwerer als 13 Kilogramm sein. Das Wasser ist auf sieben Liter am Tag rationiert und muss nicht nur zum Trinken, sondern auch zum Kochen und Waschen reichen.

Geschlafen wird zu siebt in offenen Biwak-Zelten, in denen jeder zwei Qua­dratmeter Platz für sich hat. Wer die vorgegebene Zeit oder die rationierte Wassermenge überschreitet, wird disqualifiziert. Wer in der glühenden Hitze bei 45 Grad ohne Aussicht auf Schatten an den Verpflegungsstationen apathisch wirkt, wird ebenfalls ausgeschlossen. Wer unterwegs kollabiert oder das Pech hat, von einer Schlange oder einem Skorpion gebissen zu werden, hat ein vorgeschriebenes Notfallset und einen Alarmsender im Gepäck, mit dem Hilfe angefordert werden kann. Wer Glück hat, bekommt diese Hilfe. Wer Pech hat – siehe Oktober 2021 –, der stirbt.

Anmeldegebühr von 3500 Euro

Es fällt schwer zu glauben, dass Menschen sich freiwillig solchen Strapazen aussetzen. Aber der Lauf ist trotz einer Anmeldegebühr von 3500 Euro sowie Material- und Reisekosten in ähnlicher Höhe mit 1200 Teilnehmenden restlos ausgebucht. Selcuk Erdönmez, der an diesem Dienstag nach Marokko fliegt, wo am Sonntag an einem noch nicht benannten Ort der Startschuss erfolgt, strahlt eine Vorfreude aus, die selbst der begnadete Schauspieler Christian Ulmen nicht spielen könnte. Und diese Vorfreude ist nicht naiv, sondern fußt auf Erfahrung, denn Selcuk Erdönmez weiß, was auf ihn wartet.

2016 erlebte er seine Sahara-Premi­ere und musste komplett dehydriert aufgeben, 2017 schaffte er es ins Ziel. Die Medaille tragen seine Töchter stolz durch das Haus. „Ich weiß, was mich erwartet, und das sind eben nicht nur fiese Schmerzen und totale Strapazen, sondern auch eine atemberaubend schöne Landschaft, immense Glücksgefühle und eine Kameradschaft unter den Teilnehmenden, die unglaublich intensiv ist“, sagt er. 2016 hatte ihm ein deutscher Mitläufer gesagt, während er sein Ausscheiden betrauerte: „Warte ab, du wirst wiederkommen. Einmal Wüste, immer Wüste.“ Damals habe er diese Worte belächelt. „Aber er hat recht behalten. Dieses Erlebnis lässt einen nicht los.“

Extremläufer Erdönmez arbeitet in Hamburger Werft

Es gibt allerdings einiges, was sich verändert hat im Vergleich zu vor fünf Jahren. Selcuk Erdönmez arbeitet zwar noch immer in Vollzeit als Jurist bei einer Hamburger Werft. Er ist noch immer weit davon entfernt, ein Profiathlet zu sein, er hat keine Sponsoren und trainiert nicht mehr als sechsmal die Woche und selten länger als 30 Kilometer. Aber er hat sieben Kilogramm abgenommen, wiegt bei 173 Zentimetern Körperlänge knapp unter 80 Kilogramm und will mit 75 an den Start gehen. Vor allem aber, und das macht sein Vorhaben so pikant, ist er mittlerweile Vater dreier Kinder. Wenn ihm etwas zustößt, ist das nicht mehr nur sein persönliches Risiko.

„Ich versuche, Furcht nicht zuzulassen. Aber natürlich habe ich Angst davor, dass ich zusammenbreche“, sagt er. Das vorgeschriebene Belastungs-EKG weist zwar keinerlei Auffälligkeiten auf, dennoch ist die Gefahr, die eigene Leistungsfähigkeit aus falschem Ehrgeiz oder unter den äußeren Einflüssen zu überschätzen, hoch. Selcuk Erdönmez hat sich deshalb zwei Dinge vorgenommen. Er will nicht mehr allein laufen, sondern sich stets einen Partner suchen. „Und ich werde rechtzeitig die Notbremse ziehen und keinerlei unnötiges Risiko eingehen“, verspricht er.

Ehefrau zeigt große Gelassenheit

Elif Erdönmez hört mit einem Lächeln im Gesicht zu, während ihr Mann seine Vorhaben ausbreitet. Die Gelassenheit, die die Ehefrau ausstrahlt, ist erstaunlich. „Ich vertraue ihm voll und ganz. Er hat 2016 bewiesen, dass er verantwortungsvoll mit seinem Körper umgeht, und ich weiß, dass er wegen der Kinder noch vorsichtiger sein wird“, sagt sie. Als ihr Mann ihr von seiner Idee berichtete, ein drittes Mal durch die Sahara zu laufen, sei sie weder geschockt noch erzürnt gewesen. „Im Gegenteil, sie ist diejenige, die mich antreibt, auch um 5 Uhr morgens zu trainieren“, sagt er.

Die Lieben in der Heimat werden seine Schritte am Livetracker verfolgen, die ältere Tochter hat die Reife zu verstehen, was ihr Vater tut – und warum er es tut. „Sie sagt schon, dass sie später auch Marathon in der Wüste laufen will“, sagt er. Dass sein Wagnis allerdings auch egoistische Selbstbestätigung ist, verhehlt Selcuk Erdönmez nicht. Und dass er, wenn die Sahara ein zweites Mal bezwungen ist, nur noch zum Spaß durch sein Trainingsrevier in den Boberger Dünen joggen wird, glaubt er auch nicht. Den Yukon Arctic Ultra, ein 200-Meilen-Rennen im Eis des kanadischen Nordwestens, hat er aus Kostengründen ad acta gelegt. Aber auch in Australien oder in der chilenischen Atacama gibt es Wüstenläufe. Einmal Wüste, immer Wüste? Selcuk Erdönmez kann wahrscheinlich nicht anders.