Hamburg. Rollstuhlbasketball-Nationalspielerin Anne Patzwald überstand drei schwere Krankheiten. Ihr Paralympics-Start ist schon ein Sieg.

Vor dem Flug hatte sie echt Angst. Das heißt, nicht vor dem Flug, sondern vor den Rückenschmerzen durch das lange Sitzen. „Die sind einfach immer da wenn ich längere Zeit statisch sitze“, erzählt Anne Patzwald. Mal eben aufstehen und durch den Gang laufen, das geht ja nicht, logisch. In den Gang legen? Vielleicht. Blöde Aussichten, aber alternativlos, wenn man nach Japan will.

Am vorvergangenen Sonntag ist Patz­wald mit der deutschen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft nach einem rund zwölfstündigen Flug über Frankfurt und Tokio in Fukuoka gelandet. Sie hatte Glück, ergatterte einen Businessplatz für die Langstrecke und konnte viel liegen. „Dem Rücken geht es trotzdem nicht so gut“, textete sie nach der Landung, „aber spielen geht.“

Am 24. August beginnen in Tokio die Paralympischen Spiele

Das ist die Hauptsache. Das ist der Antrieb, war der Antrieb. Für all die Mühen, die Quälerei, für dieses unglaublich scheinende Comeback nach drei potenziell tödlichen Erkrankungen gleichzeitig. Am 24. August beginnen in Tokio die Paralympischen Spiele, am 26. August bestreiten die deutschen Basketballdamen ihr Auftaktmatch gegen Australien. Und die Hamburgerin ist an der Seite von Mareike Miller und Maya Lindholm, ihren Mannschaftskolleginnen von den BG Baskets im HSV, dabei.

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„Wenn man so will, waren für mich die Pandemie und die Verschiebung der Spiele um ein Jahr ein Glück“, erzählt die 32-Jährige vor ihrer Abreise, „bis August 2020 hätte ich es nie geschafft. Aber ich hätte mir mega Stress gemacht, um fit zu werden. Natürlich vergebens.“

Die Athletik will Anne Patzwald noch weiter verbessern

Das hat die querschnittsgelähmte Ein-Punkt-Spielerin jetzt geschafft. Die Athletik kann und will sie aber noch weiter verbessern. Was mit den andauernden Rückenschmerzen wird, das muss man sehen. „Ich komme damit klar, als Sportler ist man gewohnt, Schmerzen zu integrieren.“

Es war ein blöder Unfall am 8. Mai 2020. Es war Lockdown – und alles dicht. Anne Patzwald arbeitet an der BG Klinik in Hamburg als Ergotherapeutin und unterstützt Verunfallte auch als Peer, als Beraterin, die weiß, wovon sie spricht. Sie war gerade auf dem Weg zur Arbeit, als bei ihrem Rolli ein Reifen platzte. Dummerweise gerade in einer Schräglage, sie kippte, stürzte auf den Rücken. Schultern und Nacken taten etwas weh. Die Schürfwunde an der Hüfte hatte sie nicht gespürt.

Drei Wochen lag sie auf der Intensivstation

Bis sie drei Tage später nachts um 3 Uhr mit Kopfschmerzen aufwacht und es drei Stunden lang nicht schafft, sich selbst aufsetzen zu können. Notruf, ab in die Klinik. Lange Untersuchungen. Und es ist alles eine Katastrophe. Eine Hirnhautentzündung diagnostizieren die Ärzte, durch die Schürfwunde kam es zu einem Abszess mit Sepsis, dazu eine massive Entzündung des Rückenmarks, wo sich die umgebenden Häute verklebt hatten.

„An jeder dieser Komplikationen kann man sterben“, erzählt Patzwald. Oberarzt Dr. Felix Flötotto ließ sie aus dem Bethesda-Krankenhaus nach Eppendorf verlegen, weil sie dort auf derart komplexe Fälle vorbereitet sind und er ein gutes Bauchgefühl hatte. Drei Wochen lag sie auf der Intensivstation. „Ich hatte insgesamt acht Operationen am Rücken, dem Becken, dem Unterleib, dazu eine am Bein. Fünf davon waren große OPs, wo mehrere Fachgebiete gemeinsam am Werk waren.“

Aufgeben war nie eine Option

Aufgeben, das war nie eine Option. Das wäre auch gar nicht gegangen, weil der Zuspruch und die Unterstützung von Familie, Freunden und dem Team so überwältigend war. „Mareike hat sich unglaublich gekümmert“, erzählt Anne, „sie hat in der Zeit der Besuchsbeschränkungen organisiert, wer mich wann besuchen kann.“

Sie hat Erinnerungslücken an die Zeit im Krankenhaus. Hat rumgeschusselt, ihren Freunden komische Dinge erzählt und andere nicht. Folgen der Hirnhautentzündung. „Ich habe meine Angehörigen belastet, das tut mir leid“, sagt sie.

Mannschaftskapitänin Miller brachte kleine Geschenke

Das wollen sie aber nicht hören. Mannschaftskapitänin Miller brachte kleine Geschenke, Ablenkungen und schickte Bilder von gemeinsamen Erlebnissen auf Lehrgängen, auch von den Erfolgen im Team, wie der Silbermedaille bei den Paralympics 2016 in Rio oder Bronze bei der WM in Hamburg 2018. „Wir hatten gute Zeiten und die werden wir wieder haben“, lautete die Botschaft. Nein, der Auftrag. „Das war gelebte Freundschaft. Mareike ist immer da, wenn es einem richtig dreckig geht.“

Und dreckig ging es noch lange Zeit weiter. Die Mischung aus Wollen und Können stimmte nicht. Bis zum 9. Juli 2020 lag sie noch im UKE, danach be-gann der sehr mühsame Reha-Prozess in der BG Klinik. Sport? Nicht dran zu denken. „Du darfst die Geräte nicht mal anfassen“ hatten die Therapeuten ihr gesagt. Und die Leistungssportlerin musste zugeben, dass sogar der Weg von der Station in die Sporthalle in dieser Phase anstrengend war.

Irgendwann fielen die Haare aus

Irgendwann fielen die Haare aus. Diese dicken, dichten, langen Haare. Das komme oft vor nach schweren OPs, heißt es. Auch noch. Immer dünner wurde der Zopf. Sie hat das dokumentiert, wie so viele Schritte bei dem langwierigen Genesungsprozess mit Physio, Ergotherapie und physikalischer Therapie.

Von Wieder-Eingliederung in die Arbeit ab Jahresbeginn, der Arbeitstherapie mit Laubsägearbeiten, Handarbeit, Beschäftigung, Koordination. Dazu die Gespräche mit dem Sportpsychologen, der ihr dabei geholfen hat, den Tag zu strukturieren, einen Plan zu machen. „Ich musste sortieren, was ist sehr wichtig zu tun und was weniger“, räumt Anne Patzwald ein, „ich musste wirklich Selbstorganisation neu lernen.“

Zum zweiten Mal kämpft sie sich ins Leben zurück

Bundestrainer Martin Otto hat in der ganzen Reha-Phase Kontakt gehalten. Jede Zeit der Welt habe sie, er plane fest mit ihr, es habe auch nie Druck vom Team gegeben, auch nicht von den BG Baskets. „Ich wollte natürlich unbedingt in Tokio dabei sein, das stand über allem. Die Therapeuten mussten mich eher bremsen – Anne, du machst nur 50 Prozent. Dein Körper muss erst trainierbar werden.“ So war die Ansage.

Im Frühjahr war es tatsächlich geschafft. Anne Patzwald schaffte ihr Comeback. „Am Anfang hatte ich Angst vor Stürzen, die kommen vor bei unserem Sport.“ Auch der neue Bundestrainer Dennis Noll plante mit der erfahrenen Hamburgerin, lud sie zu den abschließenden Lehrgängen ein. „Ich spüre ganz viel Anerkennung und Vertrauen.“

Start in das Turnier gegen Australien

Nach einer Woche Trainingslager in Kitakyushu wohnt die Mannschaft seit Donnerstag im Paralympischen Dorf in Tokio. Hier, wo vor rund drei Wochen Tennisprofi Alexander Zverev Olympiagold gewann, soll auch für Anne Patz-wald und ihr Team ein Traum in Erfüllung gehen. Als sich Patzwald, Miller und Zverev beim Empfang in der „Team Hamburg Lounge“ begegneten, war das auch eine Art Übergabe.

Am Donnerstag startet sie in das Turnier gegen Australien. Voller Ungewissheit über die eigene Leistungsstärke. „Die Vorbereitungsspiele waren nicht so optimal“, berichtet Patzwald, „aber wir haben ein gutes Team. Wenn wir es schaffen, gemeinsam im System Basketball zu spielen, dann können wir etwas erreichen.“

Allein die Teilnahme ist der größte Sieg

Dass sie allein mit der Teilnahme ihren wohl größten Sieg schon erringen konnte, das hat sie im Hinterkopf, das zählt aber im Augenblick für die ehrgeizige Leistungssportlerin nicht. Vielleicht später einmal, wenn sie in Ruhe und mit Abstand über das vergangene Jahr nachdenkt. Zum zweiten Mal nach dem Unfall 2009, seit dem sie Rollstuhlfahrerin ist, musste sie sich zurückkämpfen ins Leben. „Dieses Mal war es viel schlimmer. Es gab drei Dinge, die potenziell tödlich waren“, sagte sie, „aber ich bin Anne. Ich bin eine Kämpferin.“