Hamburg. Der Nationalspieler hat Typ-1-Diabetes und spricht über seinen Umgang mit der Krankheit und seine Rolle als Vorbild.

Mit einem Duell mit Kanada eröffnen die deutschen Hockeyherren am Pfingstsonntag (12.30 Uhr) auf der Anlage des Uhlenhorster HC am Wesselblek eine vier Partien umfassende Testspielserie, mit der sie sich bis zum kommenden Freitag in Hamburg auf die EM in Amsterdam (4. bis 13. Juni) vorbereiten. Im Mittelfeld wird Timur Oruz vom deutschen Feldmeister Rot-Weiß Köln auflaufen. Der 26-Jährige war fünf Jahre alt, als bei ihm Diabetes mellitus – im Volksmund als Zuckerkrankheit bekannt – diagnostiziert wurde. Wie er es geschafft hat, sich im Leistungssport zu behaupten, und warum er sich in der Aufklärungsarbeit engagiert, erläutert er im Interview.

Hamburger Abendblatt: Herr Oruz, was ist die häufigste Reaktion von Menschen, die erfahren, dass Sie als Hochleistungssportler Diabetes haben?

Timur Oruz: Das kommt darauf an, in welchem Umfeld ich mich befinde. Wenn ich Vorträge halte, ist die Überraschung nicht so groß wie das fachliche Interesse. Aber bei den meisten Menschen ist es eine Mischung aus Verwunderung und Ungläubigkeit.

Was wahrscheinlich daran liegt, dass Diabetes als lebensbedrohliche Krankheit bekannt ist und viele wenig über die Hintergründe wissen. Wie oft sind Sie mit Halbwissen konfrontiert, was Ihre Erkrankung angeht?

Tatsächlich denken die meisten Menschen bei Diabetes an den Typ 2, der meist im Alter oder bei übergewichtigen Menschen auftritt, weil der in Deutschland millionenfach vorkommt. Dann werde ich gefragt: Warum bist du nicht dick? Oder: Hast du früher zu viele Süßigkeiten gegessen? Wenn ich dann erkläre, dass ich Typ 1 habe, sind wirklich viele verwundert, was damit alles möglich ist.

Typ 1 bedeutet, dass Ihre Bauchspeicheldrüse das Hormon Insulin nicht ausreichend oder gar nicht produziert und Sie es täglich spritzen müssen. Wie beeinträchtigt das Ihren Alltag?

Ich trage am Oberarm einen Gewebezuckersensor, den ich alle zehn Tage wechsle. Der misst kontinuierlich meinen Wert, so dass ich diesen ständig kontrollieren kann. Sechs bis 14-mal am Tag spritze ich mir in Oberschenkel, Hintern oder Arm Insulin. Den Bauch habe ich bislang ausgespart, da bin ich ein bisschen eitel und froh, dass er noch unversehrt ist.

Als Fünfjähriger eine solche Diagnose zu erhalten, die das Leben verändert, wie sind Sie damit umgegangen?

Rückblickend bin ich sehr froh darüber, dass es so früh war, denn ich habe praktisch keine Erinnerungen mehr an ein Leben ohne Diabetes. Bei einem Familienmitglied ist die Krankheit mit 23 Jahren festgestellt worden. In dem Alter hatte ich gerade Olympiabronze gewonnen. Ich glaube, das hätte mich ganz anders aus der Bahn geworfen. Aber natürlich war die erste Phase sehr hart, wenn man zum Beispiel bei Kindergeburtstagen zuschauen muss, wie sich die Kumpels den Bauch mit Pizza oder Süßigkeiten vollschlagen.

Wie lang hat es gedauert, bis Sie sich damit abgefunden hatten, dass Sie sich Ihr Leben lang disziplinieren müssen?

Gefühlt ging das schnell, was vor allem daran lag, dass ich recht bald nach der Diagnose eingeschult wurde, und da wollte ich selbstständig sein, denn es ist nicht gerade cool, wenn die Mutter ständig dabei sein muss, um Insulin zu spritzen. Mein Glück war, dass ich ein optimales Umfeld hatte. Meine Mutter ist Kinderärztin, sie hat die ersten Symptome – schwere Müdigkeit, rasender Durst, Unruhe – sofort richtig gedeutet, hat die nötigen Schritte eingeleitet. Ich erinnere mich an einen Besuch im Zoo in Krefeld mit meiner Hockeymannschaft, das war noch während meiner Manifestation, als ich im Krankenhaus auf Insulin eingestellt wurde. Trotzdem durfte ich mit, und in einer Pause wurde eine Großpackung Haribo auf den Tisch gestellt. Alle stürzten sich darauf. Ich wollte gerade zugreifen, da spürte ich die Hand meiner Mutter auf der Schulter. Sie sagte, dass ich das von nun an nicht mehr dürfe. Meine Reaktion darauf war: Okay, aber das kann es nicht gewesen sein. Ich wollte unbedingt alles dafür tun, dass ich irgendwann auch wieder Süßes essen darf.

Tatsächlich tun Sie das heute. Wie ist das möglich?

Weil ich sehr viel Sport treibe, und das war von Anfang an meine Rettung, weil Hockey schon damals zu meinem Leben gehörte. Insofern war das die perfekte Lösung. Bewegung ist die beste Medizin für mich. Wenn ich mich viel bewege und dadurch ordentlich verstoffwechsle, kann ich auch mal sündigen. In Maßen, aber das tun ja alle Leistungssportler. Und in der Nationalmannschaft bin ich nicht derjenige, der am wenigsten nascht.

Aber ist nicht Leistungssport auch immens zehrend? Wie groß ist die Gefahr, dass während eines Spiels Ihr Blutzuckerspiegel außer Kontrolle gerät?

Die ist sicherlich gegeben, deshalb kontrolliere ich nach Auswechslungen oder in Trinkpausen auch meinen Wert. Unterzuckerung macht sich dadurch bemerkbar, dass ich nervös, fahrig, zittrig werde und kalte Schweißausbrüche bekomme. Alles nicht förderlich, wenn man im Hockey Leistung bringen muss. Aber ich habe gelernt, damit umzugehen, dass es während des Sports krasse Schwankungen geben kann. Ich habe zum Glück eine sehr gute Körperwahrnehmung und reagiere darauf, aber nicht immer vorbildlich.

Gab es schon Momente, in denen Ihr Leben bedroht war?

Ich bin zum Glück noch nie umgekippt. Das ist die größte Angst, die Diabetiker begleitet. Einmal habe ich es als Jugendlicher beim Basketballspielen mit Freunden so übertrieben, dass ich nur noch auf allen Vieren ins Haus kriechen und gerade noch rechtzeitig gegensteuern konnte. Und bei einer Klassenreise nach Rom bin ich beim Joggen in praller Hitze mal fast kollabiert, da habe ich mich gerade noch auf eine Bank gerettet und den Traubenzucker gegessen, den ich zum Glück bei mir hatte. Das war nicht souverän, das hätte ich besser lösen müssen. Insgesamt muss ich zugeben, dass ich meinem Körper mit dem Ausmaß, in dem ich Leistungssport betreibe, keinen Gefallen tue. Es kann sein, dass es mich Lebensjahre kostet. Aber das hält mich nicht davon ab, es trotzdem zu tun, denn ich will ja genau das: Mein Leben leben, ohne mich von der Krankheit einschränken zu lassen. Ich suche aber stets den Mittelweg zwischen möglichem Spaß und nötigem Verzicht.

Hockey-Nationalspieler Timur Oruz mit seiner Schwester Selin, die auch für die Nationalmannschaft spielt.
Hockey-Nationalspieler Timur Oruz mit seiner Schwester Selin, die auch für die Nationalmannschaft spielt. © Imago/Eduard Bopp

Fühlen Sie sich von Ihrer Krankheit gehandicapt? Fragen Sie sich manchmal, was ohne Diabetes möglich wäre?

Ich mag es nicht, von einem Handicap zu sprechen. Ich kriege einen richtigen Hals, wenn ich darüber nachdenke, dass ich als zu 50 Prozent schwerbehindert gelte. Es kommt immer auf die Perspektive an, und die war bei mir immer, dass ich die Krankheit als Herausforderung annehme. Man kann doch selbst entscheiden, ob man sich davon zurückwerfen lässt oder kämpft. Natürlich wünsche ich niemandem Diabetes, aber ich habe ihr auch viel zu verdanken. Ich bekomme viel mehr Feedback von meinem Körper, ich bin schneller gereift und erwachsen geworden. Allerdings hatte ich es dank meines Umfelds auch leicht, denn ich wurde dort immer akzeptiert. Viele andere haben es deutlich schwerer.

Sie haben sich entschieden, offen mit Ihrer Erkrankung umzugehen und sich in der Aufklärung zu engagieren. Sie halten Vorträge, stellen sich als Vorbild zur Verfügung. Wieso?

Die Krankheit zu verheimlichen, wenn man mehrmals am Tag Insulin spritzen muss, ist kaum möglich. Mein Umgang mit Messen und Spritzen war immer präsent. Trotzdem hatte ich lange die Befürchtung, dass manche glauben würden, ich würde die Mitleidskarte spielen. Deshalb habe ich mich in der Öffentlichkeit erst bekannt, als in dem Dokumentarfilm „Ecke, Schuss, Gold“ zu den Olympischen Spielen 2016 meine Erkrankung thematisiert wurde. Die Reaktionen darauf haben mir die Augen geöffnet.

In welcher Form?

Dass ich für andere, die an Diabetes erkrankt sind, das Vorbild sein möchte, das mir früher gefehlt hat. Der Held meiner Kindheit war der Mainzer Fußballtorwart Dimo Wache, der auch Diabetiker ist. Dass er es in die Bundesliga geschafft hat, war für mich eine riesige Motivation. Ich habe ihn aber leider nie persönlich sprechen können, obwohl ich vieles dafür gegeben hätte. Das möchte ich jetzt anders machen. Deshalb engagiere ich mich in der Aufklärung, das macht viel Spaß.

Es heißt, dass es – wie beim Thema Depression – auch bei Diabetes eine Dunkelziffer gibt. Dass es Leistungssporttreibende gibt, die ihre Erkrankung verheimlichen, um nicht als schwach zu gelten. Verstehen Sie das?

Nein, ich halte es auch für falsch und problematisch, als Diabetiker zu versuchen, die Krankheit geheim zu halten. Bei einer Depression mag das anders sein, weil es so viele verschiedene Ausprägungen gibt und psychische Erkrankungen noch eher stigmatisiert werden. Aber ich plädiere im Fall der Diabetes für Offenheit, denn es hat keinen einzigen Vorteil, es zu verheimlichen. Im Gegenteil, man macht es sich selbst schwer. Gerade dann, wenn alle wissen, dass du es auch mit Diabetes schaffst, dich zu behaupten, deine Leistung zu bringen, bekommst du Respekt und Anerkennung. Es ist noch niemand auf die Idee gekommen, mich als schwach zu bezeichnen.

Der Typ-1-Diabetes gilt noch immer als unheilbar. Haben Sie auch deshalb ein Medizinstudium gewählt, um daran mitzuhelfen, das zu ändern, oder weil Ihre Eltern beide Mediziner sind?

Beides. Meine Eltern waren immer meine Vorbilder. Ich habe aber in der Schulzeit in all die Freunde-Bücher in der Spalte „Berufswunsch“ reingeschrieben, dass ich Forscher werden will, der etwas gegen Diabetes erfindet. Mittlerweile weiß ich aber, dass das Labor nichts für mich ist. Es ist wahnsinnig beeindruckend, was in der Forschung geleistet wird, aber bis es eine Heilung für Diabetes gibt, werden wohl noch Jahrzehnte vergehen. Ich will deshalb lieber mit Menschen arbeiten, ihnen persönlich Mut machen und Hilfestellung geben.

Wenn man Sie über Ihre Erkrankung sprechen hört, wirken Sie fast, als seien Sie dankbar für die Erfahrung.

Ich weiß, ich bin manchmal übertrieben positiv und muss mich dann zurücknehmen, wenn ich spüre, dass meine Gegenüber ganz andere Erfahrungen gemacht haben. Natürlich gehe auch ich immer wieder durch krasse Tiefs, in denen ich meine Erkrankung richtig hasse. Aber ich räume denen keine große Wichtigkeit ein. Ich sage mir immer: Ich habe es nicht trotz Diabetes geschafft, sondern weil ich gelernt habe, damit umzugehen. Das kann jeder Mensch schaffen, und dafür möchte ich ein Vorbild sein.