Hamburg. Vor 15 Monaten bestritt er das letzte Bahnrennen. Die EM in Belarus ist für ihn die letzte Chance auf einen Wettkampf vor Olympia.

Es dürfte ein höchst ungewohntes Gefühl sein, wenn Leon Rohde an diesem Sonntag ins Flugzeug in Richtung Hongkong steigt. Nicht weil der 25 Jahre alte Bahnradsportler Langstreckenflüge nicht mögen würde – vor Corona waren die Reisen für ihn Alltag. Sondern weil der anstehende Weltcup (13. bis 16. Mai) in der chinesischen Sonderverwaltungszone für ihn der erste Wettkampf seit der Bahn-Weltmeisterschaft im Februar 2020 in Berlin ist. „Endlich“, freut sich der gebürtige Wedeler, „ die WM ist Ewigkeiten her.“

15 Monate ohne Wettkampf seien nicht einfach gewesen, erzählt Rohde. „Anfangs habe ich einfach weitertrainiert, weil ich immer noch gedacht habe, dass Olympia stattfindet“, erinnert er sich an das vergangene Frühjahr. Das Ticket für Tokio hatte der deutsche Vierer bereits vor dem Ausbruch der Pandemie gelöst, Rohde hatte beste Chancen, dabei zu sein. Ende März wurden die Spiele schließlich verschoben.

Wettkampfpraxis ist wichtig

„Als die Absage kam, konnte ich es gar nicht richtig fassen. Ich habe gedacht: Das können sie nicht machen“, berichtet Rohde. Für die Mannschaftsverfolgung ist das deutsche Team auch weiterhin qualifiziert – nur die Besetzung steht noch nicht fest. Rohdes Chancen stehen auch in diesem Jahr gut. Weil sich nach der Absage aber auch andere Fahrer wieder empfehlen durften, steht die Nominierung noch aus. Im Trainingslager in Frankfurt (Oder) kämpfen neben Rohde zurzeit sechs weitere Fahrer um die vier Startplätze – am Ende entscheiden die Trainer.

Umso wichtiger, sagt Rohde, sei die Wettkampfpraxis. „Es ist schwierig einzuschätzen, wie das Leistungsniveau ist. Natürlich hat man ein gewisses Gefühl, im Wettkampf ist es aber noch einmal etwas völlig anderes“, sagt er. Nach dem Weltcup in Hongkong gibt es für Rohde nur noch einen weiteren Wettkampf zur Olympiavorbereitung: die Europameisterschaft in Minsk (23. bis 27. Juni), der Hauptstadt von Belarus.

„Die Kritik an der EM ist auf jeden Fall berechtigt“

Dort regiert mit Alexander Lukaschenko der „letzte Diktator Europas“, wie ihn Politikwissenschaftler tauften. Lukaschenko ist der faktische Alleinherrscher. Nach der manipulierten Präsidentschaftswahl im August 2020 ließ er Tausende Protestierende monatelang brutal niederknüppeln. Die EM, fürchten Kritiker, könnte sein Image aufpolieren.

„Die Kritik an der EM ist auf jeden Fall berechtigt. Für uns als Sportler ist das aber schwierig, wir brauchen unbedingt den Wettkampf“, sagt Rohde. Als Sportler müsse er sich den Entscheidungen des Europäischen Radsportverbands (UEC) beugen. „Wir haben da keine Entscheidungsgewalt“, betont Rohde.

Bahn-EM soll stattfinden

In den Protesten gegen Lukaschenko gründeten namhafte Sportlerinnen und Sportler die Belarusian Sport Solidarity Foundation (BSSF). Die BSSF fordert eine Absage der EM. „Belarus kann so lange kein Ausrichter für größere internationale Sportveranstaltungen sein, solange Menschenrechte und Menschenwürde dort verletzt werden und die Einwohner Gewalt, Folter und Übergriffen ausgesetzt sind“, sagt die BSSF-Vorsitzende Aljaksandra Herassimenja. Als Schwimmerin gewann sie olympische Medaillen – heute wird sie von Lukaschenkos Sicherheitskräften verfolgt.

Während beispielsweise der Eishockey-Weltverband Belarus im Januar die WM entzog, soll die Bahn-EM stattfinden. „Wir sind uns der Lage bewusst und auch nicht glücklich über die Situation. Aber wir haben uns entschieden, an der Ausrichtung der EM festzuhalten“, erklärt UEC-Präsident Enrico Della Casa. In einem Brief an Herassimenja, der dem Abendblatt vorliegt, schreibt Della Casa, dass eine Absage in erster Linie die Athleten treffen würde. Einen alternativen EM-Gastgeber habe man nicht gefunden.

Bund Deutscher Radfahrer betont die sportliche Bedeutung der EM

Auch der Bund Deutscher Radfahrer (BDR) betont die sportliche Bedeutung der EM. „Wir betrachten rein den für uns sehr wichtigen sportlichen Aspekt dieser Wettkämpfe“, schreibt der BDR auf Abendblatt-Nachfrage. Die EM sei „ein wichtiger Test für unsere Olympia-Mannschaft. Außerdem geht es dort um die Qualifikation für die Weltmeisterschaft“, heißt es weiter.

Die vom Weltverband UCI veranstaltete WM (13. bis 17. Oktober) findet nicht in Belarus, sondern im nicht minder problematischen Turkmenistan statt. Dort herrscht nicht Diktator Lukaschenko, sondern Diktator Gurbanguly Berdimuhamedow. Die „Süddeutsche Zeitung“ nannte die EM- und WM-Vergabe das „anrüchige Doppel“. In der weltweiten Liste der Pressefreiheit liegt Turkmenistan auf dem drittletzten Platz, nur Nordkorea (Platz 179) und Eritrea (180) sind schlechter.

Sollte Leon Rohde bei Olympia dabei sein, wird er wohl auf die WM verzichten

„Sport ist Sport. Politische Fragen sollten auf politischer Ebene diskutiert werden“, verteidigte UCI-Präsident David Lappartient die WM-Vergabe in Turkmenistans Hauptstadt Aschgabat. Auch der BDR will an der WM teilnehmen. „Das Internationale Olympische Komitee kann Sanktionen gegen ein Land erlassen, dann dürfen dort keine Wettkämpfe stattfinden. Das ist in beiden Fällen bisher nicht geschehen“, schreibt der BDR auf Anfrage.

Sollte Leon Rohde bei Olympia dabei sein, wird er wohl auf die WM verzichten. „Die Teilnahme an der EM ist aber extrem wichtig. Nach so einer langen Pause brauchen wir jeden Wettkampf“, sagt Rohde, der in Tokio um die Medaillen mitfahren will. „Ich will unbedingt zu Olympia. Das ist das Höchste, was es in der Karriere gibt.“