Hamburg. Die 32-Jährige ist der namhafteste Zugang im Olympiateam. Erdil will 2024 in Paris in der neuen olympischen Klasse iQFoil angreifen.

24 Grad und Sonnenschein standen in dieser Woche für Lanzarote im Wetterbericht, und weil es wahrlich schlimmere Orte als die Kanareninsel gibt, um eine Pandemie zu überdauern, käme es Lena Erdil nicht in den Sinn, sich über die aktuellen Einschränkungen zu beklagen. „Die Trainingsumstände hier sind optimal, es herrschen unterschiedliche Wind- und Wasserbedingungen, sodass ich mich bestens vorbereiten kann“, sagt die 32-Jährige.

Insofern könnte alles so schön sein, wenn da nicht dieses Problem wäre, das die Windsurferin vom Norddeutschen Regatta Verein (NRV) mit so vielen Athletinnen und Athleten teilt: nicht zu wissen, worauf man sich vorbereitet.

Ein für März auf Mallorca geplanter Wettkampf ist bereits abgesagt, die Kieler Woche in den September verschoben. Für den Juni steht immerhin noch ein Event in Israel im Kalender, in das Lena Erdil angesichts des Impffortschritts dort ihre Hoffnungen setzt. Aber die Ungewissheit, die auch schon das Jahr 2020 durchzog, nagt an ihr. Dabei wollte sie in diesem Jahr ihrer Olympiakampagne Rückenwind verleihen.

Lena Erdil ist der namhafteste Zugang im Olympiateam

Weil 2024 bei den Sommerspielen in Paris die neue Hochgeschwindigkeitsdisziplin iQFoil die seit 2008 olympische RS:X-Board-Klasse ablöst, entschied Lena Erdil im vergangenen Jahr, aus ihrer Paradedisziplin Slalom, in der sie 2015 und 2016 IFCA-Weltmeisterin war, zum iQFoil zu wechseln.

„Dass ich so spät in meiner Karriere den olympischen Weg einschlage, hätte ich nie gedacht“, sagt sie, „aber es ist eine tolle Herausforderung, noch einmal etwas komplett Neues zu machen.“ Das Kämpfer-Gen, um solch einen Schritt zu wagen, hat sie von ihrem türkischen Vater, der Tischtennis als Leistungssport betrieb, Professor der Sportwissenschaft ist und nahe Bodrum eine Surfschule betreibt, die ihren Namen trägt. Ihre deutsche Mutter war in den 80er-Jahren zum Windsurfen in die Türkei gereist, dort hatten sich die Eltern kennengelernt und ihre Tochter früh mit dem Element Wasser vertraut gemacht.

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Als 18-Jährige startete Lena Erdil, die 2017/18 wegen einer Fußverletzung fast zwei Jahre ausfiel, zum ersten Mal im World Cup, kannte bald alle Gegnerinnen in- und auswendig. „Als ich dann im August 2020 bei der iQFoil-EM auf dem Silvaplanersee in der Schweiz gestartet bin, waren da 80 Frauen, von denen ich viele nicht kannte. Das hat mir einen Motivationsschub gegeben“, sagt sie. Zumal die iQFoil-Klasse, in der die Rennen mindestens doppelt so lang dauern und auf anspruchsvollerem Parcours ausgefahren werden, neue Einflüsse mit Elementen aus dem Slalom vereint. Für Lena Erdil die perfekte Mischung.

Lena Erdil ist auf der Suche nach Sponsoren

2019 hatte sie, nachdem sie zu ihrem Freund Kai-Nicolas Steimer nach Harburg gezogen war, einen Nationenwechsel vollzogen. Statt für die Türkei startete sie fortan für Deutschland. Für die in Göttingen aufgewachsene Athletin, die ihr Abitur in Brüssel machte, in Brighton Politik und Philosophie studierte und fünf Sprachen spricht, als überzeugte Europäerin kein großer Schritt. „Ich trage kaum Nationalstolz in mir“, sagt sie. Allerdings verlor sie wegen des Wechsels die Unterstützung des türkischen Ablegers des Getränkeriesen Red Bull.

Ein Verlust, der schwer wiegt, weil der Deutsche Segler-Verband (DSV) wegen der auf dieses Jahr verschobenen Sommerspiele in Japans Hauptstadt den Tokio-Kader weiter finanziell unterstützen muss und deshalb Maßnahmen für den Perspektivkader für Paris, zu dem Lena Erdil gehört, zurückstellen musste.

Zwar ist sie dem Verband für dessen Support dankbar, und auch der NRV, der 2020 sein olympisches Segelteam mit Blick auf Paris 2024 deutlich erweitert hatte, hilft seiner Vorzeigeathletin finanziell. Dennoch ist Lena Erdil auf der Suche nach Sponsoren, um spätestens in der unmittelbaren Vorbereitung auf Paris nicht mehr auf ihren Nebenjob im Onlinemarketing mehrerer Unternehmen angewiesen zu sein.

Bald will Erdil an ihre Heimatbasis nach Harburg zurückkehren

Dankbar ist sie, dass sie seit Anfang März als namhaftester Neuzugang zur Fördergemeinschaft Team Hamburg zählt, was erst dadurch möglich wurde, dass sie nun in einer olympischen Klasse startet. „Das ist eine tolle Unterstützung, die ich sehr zu schätzen weiß“, sagt die 1,65 Meter große Sportlerin, für die jeder Euro zählt, da sie ihre Trainingslager in Eigenregie finanzieren muss.

Auch ihren Freund, der lange Zeit erfolgreicher Stand-up-Paddler war, hat die Corona-Krise hart erwischt, da er mit seinem Unternehmen SUP Spirit Soul als Anbieter von Abenteuerreisen für Wassersportler 2020 maximal bis Dänemark kam. Mit ihm war Lena Erdil im Januar per Auto ins spanische Cadiz gefahren, hatte zunächst dort trainiert und war Anfang Februar mit der Fähre nach Lanzarote weitergereist. Dort teilt sie sich seitdem mit ihrer NRV-Kollegin Theresa Steinlein ein Haus, gekocht wird selbst. Alles auszuhalten, klar, aber ausbaufähig.

Anfang April will Lena Erdil, die im Sommer regelmäßig Surfcamps für Frauen organisiert, um ihre Nachfolgerinnen selbst auszubilden, an ihre Heimatbasis nach Harburg zurückkehren und am DSV-Stützpunkt in Kiel weitertrainieren. Sie hofft, dass die Saison 2021 eine halbwegs normale werden kann, „schließlich sind wir ein Individualsport mit viel Abstand an der frischen Luft“, sagt sie. Aber weil sie gelernt hat, Widerständen zu trotzen, wird sie beharrlich bleiben, was auch immer kommt, um 2024 in der Form ihres Lebens in Paris anzutreten.