Hamburg. Moderator Reinhold Beckmann engagiert sich mit Projekt für benachteiligte Jugendliche. Gespräch über soziale Spaltung in der Stadt.

Die Corona-Krise ändert alles – unsere Art zu leben, unsere Wirtschaft, unsere Innenstädte, unsere Mobilität, unseren Sport. Reinhold Beckmann gründete vor mehr als 20 Jahren das Hilfsprojekt Nestwerk, das Kinder und Jugendliche mithilfe von Sport integrieren will. Ein Gespräch über die fatalen Folgen des Lockdowns, soziale Arbeit in Zeiten von Corona und die Zukunft des Fußballs.

Wird die Welt nach Corona wieder, wie sie vor Corona war?

Reinhold Beckmann: Nein, wohl kaum. Vielleicht hat die Welt sogar eine Chance, sich zum Besseren zu verändern: Corona zeigt uns, dass unsere Ideologie vom „Schneller, Höher, Weiter“ mit dieser Pandemie-Erfahrung an ihre Grenzen stößt. Ich hoffe sehr, dass die zukünftige Bundesregierung, die irgendwie grün sein wird, die wichtigen Fragen mutig anpackt.

Sie haben 1999 die Hilfsorganisation Nestwerk gegründet – wie sehr hat Nestwerk unter Corona gelitten?

Ziemlich. Das Sammeln von Spenden ist für uns jedenfalls nicht einfacher geworden.

Was heißt das im Klartext?

Wir müssen viel mehr ackern, um Einnahmen für Nestwerk zu generieren. Ich bin im Moment viel unterwegs und versuche Unternehmer zu überzeugen, gerade jetzt zu helfen. Einige sind wirklich sehr großzügig, andere haben zurzeit selber Probleme und deshalb alle Spenden zurückgefahren. Das ist eine neue Erfahrung für uns. Es kommt noch ein zweiter Aspekt hinzu, der uns die Arbeit zurzeit erschwert: Die große Unterstützung von 2015, die Euphorie des „Wir schaffen das“ ist leider weg. Wir betreuen viele junge Flüchtlinge, 15- bis 19-Jährige, die allein ohne Begleitung ihre Heimat verlassen haben, und die stoßen im Moment in Deutschland auf weniger Solidarität als noch vor einiger Zeit.

Corona in Hamburg, Deutschland und weltweit – die interaktive Karte

Ist die Gesellschaft erschöpft?

Was das Thema Migration betrifft, gibt es eine gewisse Müdigkeit. Da ändern auch die furchtbaren Bilder aus Moria nichts.

Wie hat Corona die Arbeit von Nestwerk verändert?

Im Lockdown war es für uns zunächst extrem schwierig. Am 13. März hat die Behörde parallel zur Schließung der Schulen einen Stopp all unserer Projekte verordnet. Wir haben dann schnell auf die neue Situation reagiert und unter anderem die Hamburger Tafel unterstützt. Unsere Leute haben geholfen, den Bedürftigen Lebensmitteltüten in die Wohnung zu bringen, nachdem die Verteilstellen wegen Corona schließen mussten.

Ihre Sozialarbeiter sind also Fahrer geworden?

Ja. Wir haben auch Fahrdienste für Obdachlose zu den letzten geöffneten Duschen übernommen. Kurz darauf haben wir begonnen, unsere eigenen Projekte in digitaler Form umzusetzen, so weit es möglich war – etwa beim Yoga für geflüchtete Frauen oder mit Online-Trainingseinheiten für Jugendliche. In unserem Projekt „Spielmacher“ richten wir uns ja an junge Menschen, die in der Schule nicht so gut klarkommen, und betreuen die Jungs und Mädchen mit einer Mischung aus professionellem Fußballtraining und sozialer Bildung. Viele von denen hatten leider keine adäquate Hardware zu Hause, also haben wir Computer, die woanders überzählig und unnötig waren, gesammelt und weitergereicht. Im Mai konnten wir dann endlich wieder vor Ort durchstarten – seitdem sind die Hallen wieder geöffnet, seitdem rollt auch der Musikbus „jamliner“ wieder. Aber alles ist etwas komplizierter geworden. Gerade die Kapazitäten in den Bädern für unsere Schwimmkurse sind auch aktuell noch sehr beschränkt, da mussten wir neue Lösungen finden.

Haben Sie die Kinder und Jugendlichen alle wieder erreicht – oder sind manche verloren gegangen?

Nein, Gott sei Dank werden unsere Angebote weiterhin sehr gut angenommen. Manche Projekte können eben wegen der Hygieneauflagen noch nicht wieder in voller Teilnehmerzahl anlaufen. Auch in den Flüchtlingsunterkünften – da stellen wir einfach zwei Tore auf und spielen mit den Jungs und Mädchen Fußball. Das ist nicht nur Sport, sondern auch gelebte Integration. Dort müssen die Kinder deutsch reden, anders als in ihren Familienverbänden: Der Fußballplatz ist die beste Sprachschule. Die Kinder saugen es auf, weil es die einzige Chance ist, sich zu verständigen. Es ist schön zu sehen, wie sich Iraner, Äthiopier und Syrer auf Deutsch auch mal heftig anpflaumen. Das gehört zum Fußball schließlich dazu.

Wie hat die Pandemie den Kindern und Jugendlichen zugesetzt?

Viele unserer Teilnehmer leben in unglaublich beengten Verhältnissen – sich da gegenseitig auszuhalten war schon ohne Corona nicht einfach. Diese Pro­ble­matik hat der Lock­down natürlich noch mal verstärkt. Laut einer UKE-Studie gab es in fast 40 Prozent der Haushalte mehr Streit. Auch die häusliche Gewalt hat zugenommen.

Haben wir die Kinder aus diesen schwierigen Verhältnissen und ihre Interessen zu Beginn des Lockdowns vergessen?

Zum Teil. Wir haben sie vor allem als Schüler gesehen und nicht in ihrem sozialen Gefüge mit den ganzen Herausforderungen des Erwachsenwerdens. Gehen Sie mal nach Billstedt, Dulsberg oder Mümmelmannsberg. Da kommen noch ganz andere Probleme hinzu – etwa adipöses Verhalten. Viele Kinder haben sich im Lockdown mit der nächsten Chipstüte getröstet. Deshalb sind ja auch Projekte wie Spielmacher so wichtig. Da geht es eben nicht nur um Fußball, sondern auch um das gemeinsame gesunde Essen, um gegenseitigen Respekt und natürlich um Bildung.

  • Die 1999 von Reinhold Beckmann und Freunden gegründete Initiative Nestwerk begann mit einer Frage: Warum sind Turnhallen am Wochenende geschlossen? Mit Partnern wurden diese für Kinder und Jugendliche außerhalb des Sportunterrichts geöffnet. Weitere Freizeit- und Bildungsangebote kamen hinzu. Insgesamt erreichte Nestwerk rund 70.000 Kinder und Jugendliche.
  • Das Fußballprojekt Spielmacher bietet Jugendlichen mit Schuldefiziten oder Gewaltproblemen ein Coaching, um sie zu stärken und beim Übergang vom Schul- ins Berufsleben zu unterstützen.
  • Mit der Mannschaft Allstars, die jetzt in der Kreisliga 6 spielt, betreut Nestwerk einige junge Leute noch weiter, wenn sie den Jugendprojekten schon entwachsen sind.
  • Wer spenden will: NestWerk e. V. DE05 2005 0550 1234 2002 00 HASPDEHXXX

Was ist mit den Sprachkenntnissen? Lehrer berichten von neuen Defiziten.

Die Sprachkenntnisse haben je nach familiärem Umfeld auch gelitten. Manche Kinder und Jugendliche haben Deutsch ein wenig verlernt. Einige Flüchtlinge sind echte Sprachtalente, aber es gehört auch zur Wahrheit, dass andere sich mit dem Lernen schwertun, besonders, wenn sie in ihren Herkunftsländern kaum zur Schule gegangen sind und schon ihre Muttersprache nur auf der Straße gelernt haben.

War der Lockdown ein Rückschritt für die Integration?

Erschwert hat der Lockdown die Inte­gration auf jeden Fall. Für Jugendliche, die noch nicht so lange hier sind, brachte er oft große Verängstigung mit sich. Viele der Jungs leben ohne ihre Eltern hier in Hamburg. Für die ersetzen unsere Angebote die Familie, und die war im Lockdown auf einen Schlag weg. Umso dringlicher war es, die Arbeit schnell wieder aufnehmen zu können.

Was kann man tun, um von dieser Lebenswirklichkeit auch in den wohlhabenden Stadtteilen zu erzählen?

Das ist ein wichtiges Thema. Deshalb nehmen wir unsere Unterstützer und Sponsoren gern mit in unsere Projekte. Dann sitzen wir nach dem Sport gemeinsam im Kreis in einer Wilhelmsburger Halle und plötzlich geht es um Fluchtgeschichten. Man gewinnt Respekt vor dem, was diese jungen Menschen in ihrem Leben schon auf sich genommen haben. Davon erzählen viele der Spender noch monatelang in ihren Firmen und im Bekanntenkreis. Was Lebenswirklichkeiten betrifft, läuft es aber auch andersherum: Mit dem Entdeckerprogramm „Los geht’s“ zum Beispiel bringen wir Kindern und Jugendlichen die Stadt nahe. Es gibt Kinder, die hier in Hamburg geboren wurden, und tatsächlich noch nie den Hafen gesehen haben – schwer vorstellbar für die meisten von uns.

Wenn Sie das Angebot jetzt wieder hochfahren, reicht das Geld?

Ich habe ein bisschen was reingeschossen – aber natürlich fehlt Geld, auch weil viele Spendenveranstaltungen weggebrochen sind: die Marathon-Staffel, Charity-Events, Golfturniere zu unseren Gunsten. Wir suchen nach Wegen und setzen auf neue Projekte: So verkaufen wir zum Beispiel Nestwerk-Masken, die hier in Hamburg genäht werden. Unternehmer können bei uns ordern und auch ihr Logo aufdrucken lassen. Wir müssen an Geld kommen – wir benötigen pro Jahr für unsere Arbeit zwischen 600.000 und 700.000 Euro. Das Bedürfnis nach unseren Angeboten ist ja ungebrochen! Wir können und wollen die Hallen nicht zusperren.

Sind die sozialen Bewegungen die ersten Opfer von Corona?

In der Krise zeigt sich, dass sich etwas ändern muss – die Arbeit kann nicht nur an Ehrenämtlern hängen bleiben. Wir sehen es ja gerade wieder, am Beispiel der Flüchtlingslager von Moria. Wir können nicht immer „Wir schaffen das“ rufen und dann nicht die nötige Logistik oder die nötigen Initiativen dafür bereithalten. Das ist ein schöner Satz, aber es wäre fairer gewesen, wenn die Kanzlerin damals gesagt hätte: „Ihr schafft das.“ Keiner möchte eine weitere Radikalisierung in dieser Gesellschaft.

Schlagen wir zum Schluss die Brücke zum Fußball, Ihrem anderen großen Thema ...

Ich weiß gar nicht, ob es noch so groß ist. Ich merke, wie ich mich seit einigen Monaten aus dieser Welt herausschleiche, wie mich manche Spielerschicksale einfach nicht mehr so interessieren. Wir sehen auch im Fußball eine brutale soziale Spaltung. Du kannst dieses Milliardengeschäft nicht am Leben erhalten, als sei nichts gewesen. Ich hätte mir einen Sozialfonds gewünscht, in den alle Bundesligaspieler einzahlen, für Menschen, denen es wegen Corona schlechter geht. Leider gab es den nicht.

Gibt es eine Entfremdung zwischen Fans und Spielern?

Ich fürchte ja, da bleibt etwas zurück. Ich spüre so ein Gefühlsrauschen, dass die Menschen nicht mehr so dabei sind wie vorher. Wenn dann das Geld zum größten Teil von außen, von Oligarchen und Scheichs kommt wie in England, dann stirbt der Fußball. Dort können sich die Anhänger in den Vorstädten von London oder Manchester den Stadionbesuch längst nicht mehr leisten. Für diese Fans sind auch die Bezahlsender zu teuer geworden. Die sitzen jetzt in den Pubs. Das waren aber die Leute, die früher zum Beispiel Arsenal lautstark angefeuert haben. Wenn du heute dort ins Stadion gehst, ist das ein Ruheraum des Fußballs geworden. Ich hoffe, dass wir in Deutschland diesem verhängnisvollen Weg nicht folgen. Die Vereine sollten jetzt die Menschen in den Blick nehmen, die sie seit Jahren von der Tribüne aus unterstützen.