Achterwehr. Nach schwerer Krankheit verstarb der erste deutsche Olympiasieger im Zehnkampf im Alter von 80 Jahren.

Die Bilder von den Olympischen Spielen in Tokio 1964 sind unvergessen. 1500 Meter, die abschließende Disziplin im Zehnkampf. Auf den letzten Metern vor seinem Olympiatriumph taumelt Willi Holdorf und bricht im Ziel völlig entkräftet zusammen, muss von der Bahn geführt werden. Mit 18 Sekunden Vorsprung auf seinen Kontrahenten Rein Aun aus der Sowjetunion war er ins Rennen gegangen – und verlor nur elf Sekunden. Erst einige Minuten später realisiert er, welch historischer Erfolg ihm gerade gelungen ist: Der Schleswig-Holsteiner hatte als erster deutscher Zehnkämpfer Gold bei Sommerspielen gewonnen. Bei der Siegerehrung erklomm der total erschöpfte 24-Jährige mit Mühe das Podest und wäre beinahe gefallen. Als „König der Athleten“ ging Holdorf in die Leichtathletik-Geschichte ein.

Nun trauert der deutsche Sport um einen seiner größten Helden. Nur wenige Monate nach seinem 80. Geburtstag ist Holdorf am Sonntag in Achterwehr (Kreis Rendsburg-Eckernförde) seiner schweren Krebserkrankung erlegen, wie Ehefrau Sabine Holdorf-Schust bestätigte. Niklas Kaul, Überraschungsweltmeister von 2019, reagierte geschockt: „Wenn man mit dem Zehnkampf anfängt, dann gibt es ein paar große Namen. Willi Holdorf stand da ganz, ganz oben“, sagte der 22 Jahre alte „Sportler des Jahres“ aus Mainz. „Man konnte sich mit ihm über viele Dinge sehr gut unterhalten. Eigentlich war in diesem Jahr eine gemeinsame NDR-Doku geplant, wegen Corona kam das Projekt leider nicht mehr zustande.“

Olympiasieger Christian Schenk: "Willi Holdorf war mein Idol"

Olympia-Gold im Zehnkampf – nach Holdorf gelang dies als Deutschem nur noch dem damaligen DDR-Leichtathleten Christian Schenk 1988 in Seoul. Auch der Rostocker zeigte sich schwer betroffen. „Nein! Ich war noch zu seinem 75. bei ihm, und seiner Frau habe ich gestern erst zum Geburtstag gratuliert“, sagte Schenk. „Wir haben uns ab und zu gesehen und dann immer mit ,Hallo, Herr Olympiasieger‘ gegrüßt. Willi war ein toller Sportsmann und zugleich ein sehr guter Unternehmer, was wenige geschafft haben. Er war mein Idol!“

Schon früh war Holdorf durch seinen Fleiß und Willen aufgefallen. Das harte Brot der frühen Jahre machte Holdorf zäh. Sein Geburtsort: das 500-Seelen-Dorf Blomesche Wildnis – so einsam, wie der Name es vermuten lässt. Der Vater fiel im Krieg, Holdorf musste auf dem heimischen Bauernhof früh anpacken. Ablenkung gab es nicht, bis auf ein bisschen Fußball. Als Knirps fiel er als pfeilschneller Torjäger von Fortuna Glückstadt auf. Als er mit 19 Jahren deutscher Juniorenmeister im Zehnkampf wurde, stand er außerdem noch im Handballtor des MTV Herzhorn.

Willi Holdorf: Eine entbehrungsreiche Jugend

Auf der Aschenbahn in Tokio war die entbehrungsreiche Jugend für einen Moment vergessen, Holdorfs größter Sieg im Alter von nur 24 Jahren war auch sein letzter, zumindest im Zehnkampf. „Ich war schon verheiratet, musste eine Familie ernähren und mich um mein Studium kümmern“, sagte Holdorf, der durch Olympia-Gold nicht reich wurde. Tauschen wollte er dennoch nie, auch nicht mit seinem sportlichen Erben Kaul. „Wir hatten damals weniger Geld, aber mehr Spaß“, sagte Holdorf. Die Goldmedaille von 1964 hängt seit Jahren im Deutschen Sport- und Olympiamuseum in Köln. Nach seinem Coup wurde Holdorf zum „Sportler des Jahres“ gewählt und 2011 in die Hall of Fame des deutschen Sports aufgenommen.

Vielseitigkeit bewies der Tausendsassa und Diplom-Sportlehrer auch nach seinem Goldcoup: Als Leichtathletik-Trainer führte Holdorf den Stabhochspringer Claus Schiprowski (77/Gelsenkirchen) 1968 zu Olympia-Silber. Von 1971 bis 1973 war er Bremser im Zweier- und Anschieber im Viererbob – und holte mit Horst Floth 1973 EM-Bronze. Weniger Erfolg hatte er als Fußballtrainer bei Fortuna Köln. In der Rückrunde 1974/75 konnte er in fünfmonatiger Amtszeit nach 14 Spielen den Bundesliga-Abstieg nicht verhindern. „Als ich die Fortuna übernommen habe, war sie Letzter und am Ende Vorletzter. Das war nur ein kleiner Erfolg“, meinte Holdorf. „Es hat aber Spaß gemacht.“

Willi Holdorf arbeitete eng mit Uwe Seeler zusammen

Danach konzentrierte sich der Olympiasieger auf seinen Job als Vertreter des Sportartikelherstellers Adidas (bis 2016). Dabei arbeitete er eng mit Uwe Seeler zusammen. Die enge Freundschaft mit der HSV-Legende blieb bis zuletzt bestehen, auch über den im September seit 40 Jahren bestehenden Freundeskreis „Schneeforscher“, dem auch Franz Beckenbauer angehört.

Aber auch dem Handball blieb er verbunden: Als Gesellschafter schrieb Holdorf an der Erfolgsgeschichte des THW Kiel mit und gehörte dem Aufsichtsrat an. „Nach der richtungweisenden Entscheidung, den Handball in eine Profiabteilung auszugliedern, war Holdorf als einer von fünf Gründungsgesellschaftern maßgeblich an der Entwicklung der Kieler zum erfolgreichsten deutschen Handballclub beteiligt“, schrieb der THW auf seiner Homepage.

„Die Begegnungen mit ihm waren immer bereichernd, sein norddeutscher Humor ansteckend und seine Geradlinigkeit sehr beeindruckend“ sagte der langjährige DLV-Präsident Clemens Prokop. „Freundschaft war für ihn stets mehr als ein Wort. Durch seinen Tod hat die Leichtathletik und der gesamte deutsche Sport eine seiner großen Persönlichkeiten verloren.“