Hamburg. Seit einer Woche dürfen die Sportler wieder am Olympiastützpunkt trainieren. Ein Ortsbesuch.

Einen Effekt der Coronakrise hat wohl jeder schon an sich selbst beobachtet: Dass einem plötzlich Dinge als besonders auffallen, die lange Zeit gelebte Normalität waren. Behälter mit Desinfektionsmittel hängen am Olympiastützpunkt (OSP) im Hamburger Stadtteil Dulsberg, den das Abendblatt als erste Zeitung seit der Wiedereröffnung vor einer Woche besuchen durfte, seit vielen Jahren an allen neuralgischen Punkten.

Aber als Besucher hat man sie in der Prä-Coronazeit nie wahrgenommen. „Besonders im Winter achten wir hier sehr darauf, dass sich die Sportlerinnen und Sportler keinen Infekt einfangen. Deshalb ist Händedesinfektion bei uns kein neues Thema“, sagt Ingrid Unkelbach, die die wichtigste Einrichtung für den olympischen Leistungssport in Hamburg seit 2001 leitet.

In einer Zeit, in der neue Themen fast stündlich über die 60-Jährige und ihr Team hereinbrechen, tut es gut, auch mal auf Vertrautes zurückgreifen zu können. Sich stets auf neue Lagen einzustellen, das ist auch im Leistungssport seit dem 12. März die wichtigste Disziplin geworden. Umso glücklicher ist Unkelbach, dass seit vergangenem Montag ein Stück Alltag zurückgekehrt ist.

Die von Hamburgs Sportstaatsrat Christoph Holstein unterzeichnete Ausnahmegenehmigung, die Olympiakandidaten und ihren Funktionsteams einen Trainingsbetrieb unter strengen Auflagen erlaubt, hat das Leben zurückgebracht an den OSP, das seit 24. März zum Erliegen gekommen war. An jenem Tag verschoben das Internationale Olympische Komitee (IOC) und Japans Hauptstadt Tokio als Gastgeber die vom 24. Juli bis 9. August geplanten Sommerspiele um ein Jahr.

Rund 50 Personen haben eine Zugangsberechtigung

Die am 18. März erteilte erste Sonder­genehmigung, dank der sich Hamburgs Topsportler auf ihren Jahreshöhepunkt vorbereiten durften, erlosch damit, die Athletinnen und Athleten mussten sich im „Homeoffice“ individuell fit halten. Ingrid Unkelbach hatte diese Entscheidung der Behörden – den Sonderantrag stellt sie an das Landessportamt, das sich mit der Gesundheitsbehörde abstimmt – anfangs voll mitgetragen.

Aber weil sich keine Lockerungen andeuteten, ergriff sie die Initiative. Einerseits, weil bundesweit keine einheitlichen Regelungen galten und Hamburg als einzigem Stützpunkt die Sondergenehmigung entzogen wurde. Andererseits, weil vor allem weltweit weitertrainiert wurde. „Und eine sechswöchige Trainingspause ist auf Weltklasseniveau nicht aufzuholen, selbst wenn die Olympischen Spiele erst 2021 stattfinden“, sagt sie.

Beachvolleyballer Philipp Bergmann ackert im Kraftraum.
Beachvolleyballer Philipp Bergmann ackert im Kraftraum. © Marcelo Hernandez

Nun jedoch dürfen all jene Athleten aus Hockey, Rudern, Beachvolleyball, Golf und Schwimmen, die eine realistische Chance haben, im August 2021 in Japan an den Start zu gehen, wieder am Alten Teichweg trainieren. Das gilt auch für die Paralympics-Kandidaten Silvia Pille-Steppat (Rudern), Edina Müller (Kanu) sowie die Rollstuhlbasketballer, die allerdings wie Boxen und Leichtathletik keinen Antrag gestellt haben.

Auch das Internat ist wieder geöffnet

Inklusive der Trainer und Betreuer sind rund 50 Personen zugangsberechtigt, um die Schwimmhalle, das Beachcenter und den Kraftraum am OSP zu nutzen. Die Ausnahmegenehmigung umfasst zudem das Leistungszentrum der Ruderer in Allermöhe sowie die Leichtathletikhalle in Alsterdorf und den Kunstrasenplatz des Harvestehuder THC an der Barmbeker Straße, beides benutzen die Hockeykader zum Training. Auch das Internat der Eliteschule am Alten Teichweg ist seit einer Woche wieder geöffnet, von den 24 Plätzen sind aktuell allerdings nur drei belegt. „Das wird sich ändern, sobald die Schule den regulären Unterrichtsbetrieb wieder aufnimmt“, sagt Ingrid Unkelbach.

Laufbahnberaterin Pamela Wittfoth ist aktuell sehr gefragt.
Laufbahnberaterin Pamela Wittfoth ist aktuell sehr gefragt. © Marcelo Hernandez

Die glücklichsten Gesichter sieht, wer am Morgen die Schwimmhalle besucht. Schwimmer brauchen das Wasser wie andere Athleten die Luft zum Atmen, der Lockdown traf sie besonders hart. „Wir empfinden es als Luxus, dass wir wieder in unseren Alltag einsteigen konnten. Das ist ein Privileg, das wir zu schätzen wissen“, sagt Max Nowosad, der von montags bis freitags je zwei Stunden am Vormittag mit seinen Kollegen Rafael Miroslaw und Björn Kammann ins Becken darf. Mehr als vier Personen darf eine Trainingsgruppe nicht umfassen, angeleitet wird sie stets von denselben Coaches. Diese Aufgabe teilen sich Bundesstützpunkttrainer Veith Sieber und Landestrainer Tobias Müller.


Nachwuchskader dürfen weiterhin nicht im Wasser trainieren

„Normalerweise sind in unserer Gruppe zwölf Sportlerinnen und Sportler, die wir gemeinsam trainieren. Nun mussten wir die Gruppe halbieren, die Nachwuchskader dürfen aktuell weiterhin nicht im Wasser trainieren. Aber für die, die wieder hier sind, bedeutet das die Rückkehr in eine Alltagsstruktur“, sagt Müller. Weil nur vier der sechs Bahnen belegt werden dürfen, die zudem durch die üblichen Begrenzungsleinen voneinander getrennt sind, ist das Einhalten der Abstandsregel – mindestens 1,5 Meter – problemlos möglich. Hand­hygiene ist seit Jahren eingeübte Pflicht, das Chlor im Wasser tut sein Übriges.

Julius Thole übt auf der Außenanlage des Beachcenters.
Julius Thole übt auf der Außenanlage des Beachcenters. © Witters

Was sich verändert hat, ist die Atmosphäre im Training, der Umgang miteinander. Abklatschen nach guten Leistungen oder hartem Training ist nicht erwünscht. Die Umkleiden dürfen nicht mehr als Aufenthaltsraum genutzt werden, geduscht wird zu Hause. „Es ist schon komisch und nicht ganz einfach, sich daran zu gewöhnen, dass die gewohnte Welt stillsteht“, sagt Rafael Miroslaw. Björn Kammann ist dennoch überglücklich, wieder im Gruppentraining zu sein. „Es ist eine Art Freiheit, nicht im eigenen Zimmer individuell trainieren zu müssen. Es war ein Motivationsschub, als wir wieder an den OSP zurückkehren konnten“, sagt er.

Jede Trainingsgruppe hat einen separaten Coach

Dieses Gefühl vermitteln die Beachvolleyballer, die er als Athletiktrainer betreut, auch David Schussmüller. Zwar beschreibt auch er die Atmosphäre in den beiden Krafträumen, in denen maximal vier Athleten im großen und zwei im kleinen Raum unter Anleitung eines Coaches arbeiten dürfen, als steril. „Aber alle sind total froh, dass sie wieder hier trainieren dürfen.

Die Sportler brauchen Geräte und Gewichte, um sich richtig zu pushen. Und selbst die, die sonst keine große Lust auf das Athletiktraining haben, sind jetzt mit Vollgas bei der Sache“, sagt er. Für die Arbeit an den Kraftmaschinen gelten besonders scharfe Richtlinien. Jeder Sportler darf nur an einem Gerät arbeiten und ist dafür verantwortlich, dieses vor und nach der Einheit zu desinfizieren. Zudem gilt es, die Abstandsregel penibel zu beachten, um nicht eine Maskenpflicht zu riskieren.

Jede Trainingsgruppe hat einen separaten Coach, zwischen den meist im Zweistundenrhythmus getakteten Terminen wird eine 15-minütige Pause eingeplant, um zu vermeiden, dass sich die Gruppen begegnen. Im Beachcenter sind vier Hallen- und drei Außenplätze geöffnet, auch dort dürfen jedoch maximal zwei Teams plus ein Coach gleichzeitig arbeiten.

„Bislang funktioniert alles einwandfrei. Ich habe das Gefühl, dass die Sportlerinnen und Sportler alles dafür tun, um das Privileg, das wir genießen, nicht in Gefahr zu bringen“, sagt Ingrid Unkelbach.

Für die Einhaltung der Regeln ist die Gesundheitsbehörde zuständig

Für die Einhaltung der Regeln ist die Gesundheitsbehörde zuständig, bislang hat es allerdings noch keine Kontrollen gegeben. Nur der Schwimmmeister, eingesetzt von der Bäderland GmbH als Betreiber der Schwimmhalle, achtet jeden Morgen darauf, dass nicht mehr als vier Sportler die Bahnen bevölkern. „Wir achten aber auch gemeinsam darauf, dass jeder der Verantwortung gerecht wird, die wir als Nutzer der Sondergenehmigung genießen“, sagt Unkelbach.

Die Abendblatt-Reporter durften sich bei Beachtung der Abstandsregel auf dem gesamten Gelände frei bewegen. Regelmäßige Coronatests werden nicht durchgeführt, Maskenpflicht besteht nicht. Allerdings mussten alle zugangsberechtigten Personen einen Fragebogen zu ihrem persönlichen Covid-19-Risiko ausfüllen.

Wurde nur eine der elf Fragen mit „Ja“ beantwortet – oder muss aufgrund einer Veränderung der persönlichen Situation im Nachhinein positiv beschieden werden – darf der oder die Betreffende nicht mehr trainieren und muss sich bei OSP-Vertrauensarzt Michael Ehnert, Leiter des Sportmedizinischen Instituts der Asklepios-Klinik St. Georg, in Behandlung begeben.

Situation bleibt angespannt

Bei aller Freude darüber, wieder geregeltem Training nachgehen zu können, bleibt die Situation für Hamburgs aussichtsreichste Athleten angespannt. Schließlich weiß aktuell niemand, worauf man hintrainieren soll, eine Rückkehr in den Wettkampfbetrieb steht für alle in den Sternen. „Den Sportlern fehlt das Ziel, das sie sonst haben. Das ist mental sehr anstrengend“, sagt Veith Sieber. Man versuche deshalb, über interne Wettkämpfe im Training oder kleine Challenges im Kraftraum Anreize zu setzen. „Aber natürlich ersetzt das nicht das zielgerichtete Hinarbeiten auf einen Wettkampf“, sagt David Schussmüller.

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Um die psychischen Auswirkungen der Krise ebenso abzufedern wie die körperlichen, bietet der OSP umfangreiche Betreuung durch die Sportpsychologen Anett Szigeti und Thorsten Weidig. Ebenso wichtig ist in der aktuellen Phase die seit 2014 in Hamburg fest angestellte Laufbahnberaterin Pamela Wittfoth. Sie bietet den Kadersportlern, die die Eliteschule besuchen oder schon in Aus­bildung oder Studium sind, wichtige Unterstützung auf dem Weg durch das Dickicht der dualen Karriere an. Dabei hat sie festgestellt, dass ihre Dienste aktuell vor allem für die Olympiakandi­daten hohe Wichtigkeit genießen.

Athleten hatten ihr Leben auf Olympia ausgerichtet

„Alle Athleten, die nach Tokio wollten, hatten ihr Leben auf Olympia ausgerichtet. Einige haben dafür Urlaubssemester eingeplant, andere ihre Prüfungen verschoben, wieder andere wollten nach Olympia voll ins Berufsleben einsteigen“, sagt sie. „Für alle ist durch Corona eine Welt zusammengebrochen. Sie merken jetzt, wie wichtig ein zweites Standbein ist, und ich versuche, ihnen dabei zu helfen, das jetzt aufzubauen.“

Ein wichtiger Schritt war, all jenen Studierenden, die Urlaubssemester geplant hatten, den nachträglichen Einstieg ins Sommersemester ermöglichen zu können. „Das lindert wenigstens einige Sorgen“, sagt Pamela Wittfoth, die die Gespräche mit den Athleten vorrangig über den Internetdienst Skype führt.

Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

  • Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
  • Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
  • Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
  • Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
  • Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden

Ingrid Unkelbach hat von digitalen Konferenzen langsam die Nase voll, sie bevorzugt das persönliche Gespräch und ist deshalb auch wochentäglich in ihrem Büro anzutreffen. Dass die Ausnahme­situation noch viele Monate anhalten könnte, versucht sie zu verdrängen, ohne die Augen vor der Realität zu verschließen.

Die Zettel an allen Eingangstüren, die Zutritt nur für Olympiakandidaten und OSP-Mitarbeiter gewähren, hofft sie so bald wie möglich wieder abhängen zu können. „Bis dahin“, sagt sie, „werden wir mit aller gebotenen Vorsicht das Beste aus der Situation machen.“