Hamburg. Die Sportlotsin kümmert sich darum, dass Menschen mit geistiger Behinderung in der Hansestadt passende Angebote finden.

Rund 130.000 Menschen mit Behinderung leben in Hamburg, 30.000 haben eine geistige Behinderung. Sie alle sind potenzielle Sportlerinnen und Sportler – doch weder sie selbst noch die meisten Sportvereine wissen das. Um diesen Zustand nachhaltig zu verändern, hat die Evangelische Stiftung Alsterdorf für ihr von der Aktion Mensch unterstütztes Projekt „Gemeinsam mehr bewegen“ eine Sportlotsin eingestellt: Linda Bull (29) bekleidet das Amt seit einem Jahr. Über ihre Erfahrungen berichtet sie im Abendblatt-Gespräch.

Frau Bull, wie beschreiben Sie in zwei kurzen Sätzen, was eine Sportlotsin zu tun hat?

Linda Bull: Es geht darum, den Weg zu weisen, aber nicht den Schiffen in den Hafen, sondern Menschen mit Behinderung, wie sie an Sportangebote herankommen, und Sportvereinen, wie sie diese Menschen ansprechen können. Meine Aufgabe ist, diese beiden Gruppen zusammenzubringen und die Teilhabe am Sport für alle zu ermöglichen.

Warum ist das notwendig?

Weil weder die meisten Menschen mit Behinderung noch die meisten Vereine wissen, wie wichtig es ist, diese Gruppe in Bewegung zu bringen. Sport ist für Menschen mit Behinderung genauso wichtig wie für alle anderen Menschen. Er ist ein wichtiger Aspekt bei der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, der allen Menschen ermöglicht werden sollte. Aber oft trauen sich Menschen mit Behinderung das nicht zu oder wissen nicht um die Wichtigkeit von Bewegung. Darin sehen wir unsere Aufgabe: Ihnen beizubringen, dass Sport nichts ist, vor dem sie Angst haben müssen, sondern etwas, das gut für sie ist und an dem sie Spaß haben sollen – und auch können.

Sie sprechen vor allem geistig Behinderte an. Was ist mit körperlich behinderten Menschen? Sind Sie für die nicht zuständig?

Tatsächlich richtet sich unser Angebot vor allem an geistig behinderte Erwachsene. Wir schließen natürlich niemanden aus. Über unser großes Netzwerk vermitteln wir auch Körperbehinderte. Und geistig behinderte Kinder kommen in der Regel über die schulische Ausbildung mit Sport in Kontakt. Werden sie erwachsen, fallen sie aber aus dem System, weil sie sich um viele andere Dinge kümmern müssen, die wichtiger sind, wie zum Beispiel Wohnung oder Arbeit. Da gerät Sport in den Hintergrund.

Was sind die größten Hemmschwellen, mit denen Sie in Ihrer Arbeit konfrontiert sind?

Menschen mit geistiger Behinderung wissen oft gar nicht, dass sie selbst Sport machen können. Da gibt es eine Barriere im Kopf. Die sehen zum Beispiel ein Fußball-Bundesligaspiel und denken: Das ist Sport? Das kann ich nicht! Und wenn sie doch den Schritt wagen und einen Sport suchen, ist das Problem, dass es zu wenige Angebote gibt und diese Angebote für die Menschen oft nur schwer erreichbar sind, weil sie dafür durch die halbe Stadt fahren müssten. Es fehlt gravierend an Personal, das die Menschen zum Sport bringen und wieder abholen könnte.

Ist das Finanzielle keine Hürde? Menschen mit geistiger Behinderung sind auf Unterstützung angewiesen. Da ist der Mitgliedsbeitrag im Sportverein nicht vorgesehen.

Das stimmt. Für betreute Menschen sind schon 15 Euro im Monat kaum zu stemmen. Deshalb arbeiten wir verstärkt mit dem Rehabilitationssport zusammen, denn Menschen mit geistiger Behinderung haben einen lebenslangen Anspruch auf Rehasport. Das ist eine gute Notlösung, um den finanziellen Aspekt zu deckeln. Generell sollte die Teilhabe in der Grundversorgung verankert sein.

Und für die Vereine? Gibt es noch immer Berührungsängste in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung?

Die gibt es, und dafür haben wir auch Verständnis. Auch für mich war es Neuland, ich habe einen Tennistrainerschein, aber hatte null Erfahrung oder Berührungspunkte mit Behinderten. Es ging aber sehr schnell, sich einzugewöhnen. Manche Vereine haben zwar Interesse, scheuen aber den Aufwand, den sie vermuten, wenn man sich mit geistig behinderten Menschen beschäftigt. Dabei stellen sie es sich schwieriger vor, als es ist. Die meisten aber wissen nicht einmal, wie groß der Bedarf wirklich ist, weil viele Interessenten nicht aktiv auf Vereine zugehen und nachfragen. Darin sehe ich deshalb auch einen enorm wichtigen Teil meiner Arbeit, dass ich auf beiden Seiten Bewusstsein füreinander schaffe.

Dann erklären Sie doch bitte, was es an Voraussetzungen braucht, um geistig Behinderten Sportangebote zu machen.

Man braucht eigentlich nur die entsprechende Motivation und die nötigen Räumlichkeiten. Dazu noch Trainerinnen und Trainer, die offen für diese Arbeit sind. Eine spezielle Ausbildung ist nicht notwendig. Über den Hamburger Sport-Bund, mit dem wir sehr eng kooperieren, können sich Interessierte weiterbilden lassen. Wir bieten mittels Kooperationen mit Vereinen an, dass jeder hospitieren und sich damit einen Einblick verschaffen kann, ob ihm diese Arbeit liegen würde.

Treten Sie zusammen mit dem Inklusions-Sportverein Alsterdorf e.V., der als Verein um Mitglieder buhlt, nicht in Konkurrenz zu den anderen Vereinen, die Sie eigentlich beraten sollen?

Wir wollen uns überhaupt nicht als Verein breitmachen, sondern dafür werben, dass sich alle Vereine öffnen. Aber wir haben den ISV gegründet, um in unserer Stiftung in einer eigenen, umfassend barrierefreien Dreifeldhalle an Ort und Stelle diejenigen erreichen zu können, die entsprechende Angebote suchen.

Geht es in Ihrer Arbeit um Sportangebote, in denen geistig Behinderte unter sich sind, oder um inklusive Angebote, also um das Zusammenspiel von Menschen mit und ohne Handicaps?

Das große Ziel ist inklusiver Sport. Aber wir haben gemerkt, dass viele Menschen mit geistiger Behinderung erst einmal motiviert werden müssen, sich überhaupt mit Sport zu beschäftigen. Dafür braucht es niederschwellige Angebote, bei denen die Menschen mit Handicap unter sich sind und wir über kleine Spiele Bewegung anbahnen. Ein Beispiel: Man sitzt am Tisch und übt spielerisch Bewegungen, die keine Alltagsbewegungen sind, zum Beispiel die Arme in die Luft zu strecken. Das ist natürlich noch kein Sport, aber der Anfang koordinierter Bewegung. Dadurch können wir Schritt für Schritt herausfinden, was die Menschen am besten können oder am liebsten mögen. Es sind diese kleinen Dinge, die ihnen vor Augen führen, dass sie es schaffen können, sich aus ihrer Komfortzone auf den Weg zu machen. Und manche von denen bilden wir sogar später zu Übungsleiter-Assistenten aus, damit sie Verantwortung übernehmen. Das machen wir in Kooperation mit Special Olympics.

Die Evangelische Stiftung Alsterdorf

Gegründet vor 157 Jahren


  • Mehr als 6400 Beschäftigte

  • Mehr als 180 Standorte in Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen

  • Das ist die Organisation, die die wichtigsten sportlichen Wettkämpfe von Menschen mit geistiger Behinderung ausrichtet. Ist das eine Art Konkurrenz für Sie?

    Überhaupt nicht, im Gegenteil, wir arbeiten sehr eng zusammen. Wir sind die Vorstufe, das Breitensportangebot, aus dem dann hoffentlich auch Kandidaten für den Leistungssport hervorgehen. Wenn es Sportlerinnen und Sportler, die wir in Bewegung gebracht haben, zu den Special Olympics schaffen, ist das ein toller Erfolg für uns.

    Wie sind die Reaktionen, die Sie auf Ihre Arbeit bekommen?

    Durchweg sehr positiv. Wir bekommen viele Anfragen von Einrichtungen, die ihre Bewohner gern über uns zum Sport vermitteln möchten. Auch die Vereine, mit denen wir arbeiten, sind sehr offen. Allerdings war ich bislang auch selten in Vereinen, die von unseren Angeboten gar nichts wussten. Unser Projekt noch deutlich bekannter zu machen und alle 819 im HSB gemeldeten Vereine zu erreichen, das ist mein langfristiges Ziel.

    Wie viele erreichen Sie aktuell?

    Als ich anfing, gab es in Hamburg 24 Vereine, die inklusive Sportangebote machten. Die Anzahl ist zwar gestiegen, aber nicht signifikant. Das Thema Inklusion allerdings ist in der Gesellschaft angekommen, das Bewusstsein dafür ist deutlich größer geworden.

    Sie sind die einzige Sportlotsin in Hamburg. Bräuchte es mehr?

    Auf jeden Fall, der Bedarf ist da. Aktuell habe ich einen Sportassistenten mit Down-Syndrom, der mir hilft, und eine Kollegin, die mich unterstützt. Wir würden gern noch zwei, drei weitere Sportlotsen einstellen. Aber das ist auch eine finanzielle Frage. Bis Ende 2021 ist das Projekt dank „Aktion Mensch“ größtenteils finanziert. Wie es im Januar 2022 weitergeht, ist noch nicht klar.

    Wenn Sie sich ein Idealbild von inklusivem Sport für Menschen mit geistiger Behinderung malen dürften, wie sähe das aus?

    Dann gäbe es in jedem Stadtteil mehrere Vereine, die inklusive Sportangebote machen, und bei denen Menschen mit geistiger Behinderung nicht mehr abgewiesen werden. Es gäbe in jedem Verein motivierte Trainerinnen und Trainer – und einen Shuttleservice, der die Menschen von zu Hause abholt und nach dem Sport zurückbringt. Aber dafür müssen wir noch ein bisschen was tun.