Wien. Mehr als sechs Millionen Zuschauer sehen das bittere 24:25 gegen Kroatien. Christian Prokop steht wieder in der Kritik.

Am Sonntagmorgen waren die Putzkräfte in der Wiener Stadthalle noch schwer beschäftigt. Sie fegten auf den Tribünen die Überreste des Vorabends zusammen. Wasserflaschen, Limodosen und Popkorntüten. Ein paar Meter tiefer waren wenige Stunden zuvor die Träume der deutschen Handballer über den EM-Halbfinaleinzug entsorgt worden. Von Kroatiens Nationalteam, das sich als besonders gründliche Putzkraft entpuppt hatte und nun verlustpunktfrei für die Runde der letzten vier planen kann.

Das Spielfeld hatten die Deutschen, für die maximal das Spiel um Platz fünf noch möglich ist, mit gesenkten Köpfen verlassen, sie sprachen leise Worte wie „bitter“ und „Frust“.

6,4 Millionen sehen deutsches EM-Aus

Das hatte sich auch am Folgetag nicht geändert. Kapitän Uwe Gensheimer schlich bedrückt durchs Teamhotel, gelegen in einem tristen Gewerbegebiet im Süden Wiens. Es passte zur Stimmung. Zu groß war noch immer die Enttäuschung über die 24:25 (14:11)-Niederlage gegen Kroatien, die 6,40 Millionen Zuschauer im ZDF sahen (Marktanteil 20,7 Prozent).

Es war eine hochspannende, zuweilen hochklassigen Partie, in dem das deutsche Team so kurz vor dem Sieg stand. Ein Spiel, das, wie Abwehrchef Hendrik Pekeler es formulierte, „eigentlich auch ein EM-Finale hätte sein können“.

Handballer verspielen Fünf-Tore-Führung

Am Ende aber halfen ein starker Andreas Wolff im Tor, eine disziplinierte offensive Arbeitsweise, eine kräftig zupackende Abwehr und eine zwischenzeitliche Fünf-Tore-Führung (17:12) zu Beginn der zweiten Hälfte nicht.

Deutschlands Kreisläufer Jannik Kohlbacher verwarf wenige Sekunden vor Schluss die Riesenchance zum Ausgleich gegen Kroatien.
Deutschlands Kreisläufer Jannik Kohlbacher verwarf wenige Sekunden vor Schluss die Riesenchance zum Ausgleich gegen Kroatien. © Martin Rose/Bongarts/Getty Images

In den dramatischen Schlussminuten hatte Kai Häfner in Unterzahl einen Fehlpass gespielt, Julius Kühn den Ball übers Tor geworfen und Jannik Kohlbacher frei vom Kreis die Kugel gegen den Arm von Torhüter Marin Sego gepfeffert. Zwei vergebene deutsche Großchancen ließen die Kroaten jubeln. „Es war eine Situation am Ende, aber da waren noch viele, viele andere Situationen dabei“, analysierte Gensheimer die „dumme Niederlage“.

Waren die Ziele bei der EM zu hoch?

„Am Ende muss man zugeben, dass dieser Kader nicht gereicht hat für unser großes Ziel“, sagte Bob Hanning, Vizepräsident des Deutschen Handballbundes (DHB). Angesichts der zahlreichen Ausfälle im Rückraum schien der Halbfinaleinzug ohnehin ambitioniert, eine gute Gruppenauslosung hatte indes berechtigte Hoffnungen geschürt.

„Das Ziel haben wir bewusst hochgehalten“, gab Hanning mit Blick auf die Verletztenliste mit Leistungsträgern wie Fabian Wiede, Martin Strobel und Steffen Weinhold zu, „nur wenn du selbst an etwas glaubst, kannst du auch Großes erreichen“.

Wie es für Deutschland bei der EM weitergeht

Hanning richtete den Blick direkt auf die kommenden Aufgaben. Die EM ist noch nicht vorbei, am Montag folgt das Hauptrundenspiel gegen Österreich (ARD), am Mittwoch geht es gegen Tschechien (ZDF/beide 20.30 Uhr) – und danach vielleicht noch zum Spiel um Platz fünf nach Stockholm.

Es gilt nun, sich mit einem guten Gefühl aus der EM zu verabschieden, Selbstvertrauen für das Olympiaqualifikationsturnier im April in Berlin zu erspielen. Hanning: „Wir wollen im Sommer nach Tokio, viele Ballsportarten haben es schon nicht geschafft. Darauf konzentrieren wir uns.“

Hanning erhöht den Druck auf Prokop

Die kommenden Spiele werden zur Charakterfrage für die Spieler. Und sie können Christian Prokop vor einer Trainerdebatte bewahren. Anzeichen davon waren schon in der blassen Vorrunde erkennbar, doch die starken Auftritte gegen Weißrussland (31:23) und Kroatien sorgten wieder für etwas Ruhe.

Bob Hanning (r.) verfolgte das EM-Aus der Handballer mit Sturmfrisur und schriller Jacke.
Bob Hanning (r.) verfolgte das EM-Aus der Handballer mit Sturmfrisur und schriller Jacke. © Martin Rose/Bongarts/Getty Images

Hanning sah am Sonnabendabend noch „keinen Anlass zu einer Diskussion. Wir haben das Ziel nur um Millimeter verpasst. Ich gehe auch nicht davon aus, dass es nach dem Turnier dazu kommt.“ Am Sonntag sprach er allerdings folgende Sätze: „Montagabend wird sich zeigen: Was macht diese Mannschaft mit ihrem Trainer? Österreich in Österreich ist der beste Gegner, um all diese Fragen zu überprüfen.“

Hanning war Trainer des HSV Handball (Dezember 2002 bis Mai 2005) und ist seit Juli 2005 Manager des Handball-Bundesligisten Füchse Berlin. Der 51-Jährige ist ein Mann mit schrillen Outfits und ein Freund klarer Worte. Seine haben beim DHB besonders viel Gewicht. Als er nach der enttäuschenden EM vor zwei Jahren in Kroatien (Platz neun) seine Weiterarbeit beim DHB mit dem Schicksal von Christian Prokop verknüpfte, durfte der Bundestrainer bleiben, erhielt eine zweite Chance. Nun macht auch Hanning Druck.

Ex-Welthandballer Stephan sieht keine Fortschritte

Den macht sich Prokop auch selbst. „Wir wollen weiter Hunger zeigen“, sagte der 41-Jährige, „wir wollen uns Selbstvertrauen für die Olympiaqualifikation erspielen, und das tun wir hier bei der EM auf Topniveau.“ Für die Österreicher sei es „das Spiel ihres Lebens. Sie werden alles daran setzen, uns zu ärgern“, meinte Prokop. Sein Kapitän Gensheimer stellte auch klar: „Wir haben uns vorgenommen, dass wir uns in der Hauptrunde anders präsentieren als zuvor. Das ist uns zwei Spiele lang gelungen und damit wollen wir fortfahren.“

Deutlicher in seiner Kritik wurde der ehemalige Welthandballer Daniel Stephan (46). „Wir sind seit der Heim-WM 2019 keinen Schritt nach vorne gekommen, haben die Vorrunde total verschlafen, das darf nicht passieren“, sagte Stephan und nannte „Defizite im Angriff, die zweite Welle funktioniert nicht. Das ist alles sehr ernüchternd.“ Prokop sei „nicht der Richtige“, habe „zu wenig Erfahrung. Es gibt nach wie vor kein Konzept gegen eine offensive Deckung, und seine Wechsel tragen zur Verunsicherung bei.“