Hamburg. Rafael Miroslaw hatte ein Erweckungserlebnis im Wasser. 2020 soll er bei den Sommerspielen in Tokio erstmals Olympiaerfahrung sammeln.

Er könne sich nicht konzentrieren, hieß es, als er ein Kind war. Er sei zu lebhaft, zu abgelenkt von allem, was um ihn herum passierte. Als er achteinhalb Jahre alt war, meldete ihn die Mutter bei der Schwimmabteilung der HT 16 an, damit er das Seepferdchen absolvieren würde. Und plötzlich wusste Rafael Miroslaw, wo seine Bestimmung liegen könnte. „Im Wasser bin ich ganz ruhig. Da bin ich in meinem Element. Niemand kann mich nerven, ich habe meine Ruhe und kann nachdenken“, sagt er heute, zehn Jahre nach dem Erweckungserlebnis, das möglicherweise dafür verantwortlich war, dass Hamburg in den kommenden Jahren auf internationale Schwimmmedaillen hoffen darf.

Rafael Miroslaw, 18 Jahre alt, 85 Kilo Muskelmasse verteilt auf 186 Zentimeter Körperlänge, ist am Olympiastützpunkt in Dulsberg einer der Leistungssportler, die genannt werden, wenn es um aussichtsreiche Olympiakandidaten der Zukunft geht. Stützpunktleiterin Ingrid Unkelbach schwärmt von der Leistungsbereitschaft und Willensstärke des Athleten. Cheftrainer Veith Sieber sagt: „Er hat den perfekten Schwimmerkörper und sich in den vergangenen zwei Jahren nicht nur so entwickelt, wie wir es erwartet, sondern wie wir es erhofft hatten.“

Miroslaw: "Ich habe den Willen, Leistung zu bringen"

Große Worte sind das, und Miroslaw, der seinen Nachnamen und sein Temperament seiner polnischen Mutter verdankt, weiß, wie sie über ihn denken in der Szene. Druck oder zusätzlichen Ansporn erzeugen die Aussagen dennoch nicht für ihn. „Ich nehme die Anerkennung absolut wahr und schätze es sehr, dass ich derart respektiert werde“, sagt er. „Aber ich versuche nur, meinem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Ich habe den Willen, Leistung zu bringen. Alles muss aus mir herauskommen, wenn ich den maximalen Erfolg haben will.“

Woher er ihn hat, diesen Willen, das kann Rafael Miroslaw nicht sagen. Wann er das erste Mal gespürt hat, im Schwimmen Großes erreichen zu wollen, das weiß er dagegen sehr genau. „Bei der Junioren-WM vor zwei Jahren in Indianapolis war ich einer der Langsamsten. Da habe ich gesehen, dass ich ein Niemand war. Und ich wusste, dass ich das nicht sein wollte“, sagt er. Veith Sieber hält dieses Erlebnis für den Wendepunkt in der Karriere seines Schützlings. „Seitdem ist seine Entwicklung total ins Positive gekippt“, sagt der 39-Jährige, „es war der Moment, in dem er gemerkt hat, dass er etwas kann, aber dass er noch längst nicht ganz vorn ist. Und daraus hat er seine Konsequenzen gezogen.“

Umzug ins Internat des Olympiastützpunkts

Die wichtigste dieser Konsequenzen war im Sommer 2018 der Umzug ins Internat des Olympiastützpunkts, das in unmittelbarer Nähe zum Trainingszen­trum und der Eliteschule des Sports am Alten Teichweg liegt, die Rafael Miroslaw in der „Streckerklasse“ besucht. Dort kann er die Zeit bis zum Abitur auf 14 Jahre verteilen, was bei 105 Fehltagen allein im vergangenen Schuljahr hilfreich ist. Von seinem Elternhaus in Bramfeld war er zuvor jahrelang mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Fahrrad gependelt, manchmal mehrfach am Tag. Zeit, die er nun mit Regeneration oder zusätzlichem Training füllen kann.

Für Rafael Miroslaw gab es jedoch noch einen weiteren gewichtigen Grund für den Umzug: Im Internat hat er seine Ruhe und das perfekte Umfeld. „Ich habe drei jüngere Geschwister, die nachts oft laut sind. Außerdem haben wir nicht viel Geld, sodass meine Mutter nicht immer die Nahrungsmittel einkaufen konnte, die mir guttun“, sagt er. Im Internat wird für optimale Sportlerernährung gesorgt, hier bekommt er zum Frühstück auch den Thunfisch, den er so gern isst. „Besser könnte es nicht sein“, sagt er.

Miroslaw machte Leistungssprünge, die nicht alltäglich sind

Die Erfolge sprechen für sich. Auf seinen Paradestrecken 100 und 200 Meter Freistil, auf die sich Sieber mit seiner Trainingsgruppe konzentriert, hat Rafael Miroslaw Leistungssprünge gemacht, die nicht alltäglich sind. Bei der Junioren-EM in Kasan gewann er Anfang Juli mit der 4x100-m-Freistilstaffel Gold, obwohl er die Zeit in Russland eigentlich als Vorbereitung auf seine erste WM-Teilnahme nutzen wollte. In Gwangju (Südkorea) sicherte er als Mitglied der 4x200-Meter-Freistilstaffel Deutschland mit Rang acht den Quotenplatz für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio, schwamm in 1:46,89 Minuten fliegend die zweitschnellste Zeit. Nur sein Trainingskollege Jacob Heidtmann (24/Elmshorn), 2016 Olympiateilnehmer in Rio de Janeiro und in Siebers Trainingsgruppe auch deshalb ein Vorbild, war schneller.

Erfolge sind das, die ihm nicht nur kürzlich den Titel „Hamburgs Eliteschüler des Jahres“ und eine Nominierung zum „Hamburger Sporttalent“ (Vergabe am 22. Oktober) einbrachten. Sondern die ihn auch daran glauben lassen, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist. „Manchmal, wenn das Training besonders hart ist, frage ich mich schon, warum ich mir das antue“, sagt er. „Aber ich gebe zu, dass ich einen kleinen Knacks habe. Man muss verrückt sein, wenn man Außergewöhnliches erreichen will. Aber wenn ich die Erfolge nicht hätte, würde ich es wohl auch nicht machen.“

In der Zeit vom 1. Januar bis 3. Mai 2020 müssen die deutschen Schwimmer die Normen für Tokio erfüllen, die der Verband in Kürze bekannt geben wird, um nominiert zu werden. Die Vorbereitung darauf hat bereits begonnen. Rafael Miroslaw sagt, er habe Olympia noch nicht im Fokus. „Vor zwei Jahren hat mir Jacob gesagt, dass ich ihn nach Tokio begleiten werde. Damals konnte ich mir das überhaupt nicht vorstellen. Aber ich hätte auch nicht gedacht, dass ich in diesem Jahr schon bei der WM starten würde.“ Er muss jetzt ruhig bleiben und sich konzentrieren. Aber wo könnte er das besser als im Wasser?