Hamburg. Der Athlet will beim „Ocean’s Seven“ die sieben größten Kanäle der Welt durchqueren – nur einer fehlt ihm noch.

Als er 16 Jahre alt war, stand André Wiersig auf einer Fähre, die ihn von Calais nach Dover bringen sollte, ein Teenager auf dem Weg zum Schüleraustausch. Staunend schaute er auf das dunkle, raue Wasser hinüber nach England. Und erinnerte sich daran, wie sehr ihn im Englischunterricht die Geschichte des Matthew Webb fasziniert hatte, der 1875 diesen Ärmelkanal als erster Mensch durchschwommen hatte. „Damals dachte ich: Welch ein Wahnsinn, ist das weit weg“, sagt Wiersig. „Das würde ich nie schaffen. Das Meer ist viel zu kalt. Und dann die Wellen.“

Wiersig (47) erzählt davon in seinem Büro am Neuen Krahn, Blick auf die Speicherstadt, die Glasfassade der Elbphilharmonie reflektiert das helle Grau des Himmels. Seit 20 Jahren arbeitet er hier im Vertrieb einer IT-Firma, sein Schreibtisch wirkt klinisch rein. Manchmal aber bricht er aus diesem Büroalltag aus, das dokumentieren drei großflächige Seekarten, die an einer Wand hängen. Eine davon zeigt den Ärmelkanal und eine Linie: jene Route, die er 2014 von Dover zum Cap Griz-Nez schwamm, er brauchte für die rund 33 Kilometer lange Strecke neun Stunden und 43 Minuten. Für viele andere Schwimmer wäre dies die Krönung ihrer Karriere gewesen.

Doch dann legte ihm ein Kollege im Büro einen Zeitungsartikel auf den Tisch. Er handelte von einem Wettbewerb namens „Ocean’s Seven“, den sich der US-Schwimmcoach Steven Munatones 2009 ausgedacht hatte: das Durchschwimmen sieben großer Kanäle der Welt. Neben dem Ärmelkanal, las Wiersig, waren das noch der North Channel (35 km) zwischen Nordirland und Schottland und die Straße von Gibraltar (14 km). Dazu die Tsugaru Strait (Japan, 20 km), die Cook Strait (Neuseeland, 23 km), der Catalina Channel (32 km) vor Los Angeles und der Kaiwi Channel (44 km) auf Hawaii. Er war sofort Feuer und Flamme.

Die letzte Etappe

Heute, fünf Jahre nach dem Ärmelkanal, steht Wiersig kurz davor, als erster Deutscher diese Herausforderung geschafft zu haben. Weltweit gelang das erst 15 Menschen. Sechs Kanäle hat er bereits „completed“, wie er das nennt. Mittwoch fliegt er nach Malaga, um die Straße von Gibraltar von Norden nach Süden zu queren. Das sei, sagt er, „eher die leichteste Strecke“, man könne die Strömung gut nutzen. „Aber man darf auch das nicht unterschätzen. Es gibt Leute, die träumen davon oder arbeiten darauf hin, einmal in ihrem Leben von Europa nach Afrika zu schwimmen. Dann möchte ich auch nicht sagen, das schüttle ich mal eben aus dem Ärmel.“

Es ist, so oder so, die letzte Etappe einer langen Reise. Begonnen hatte alles an einem kleinen Strand auf Ibiza, wo er im Februar 2012 bei einem Freund Urlaub machte und, wie gewohnt, in das Mittelmeer springen und zu einer Boje schwimmen wollte, die ein paar Hundert Meter entfernt lag. Aber das Wasser hatte nur rund 14 Grad, und als er ins Wasser ging, bremste ihn der Körper. „Was ich dabei erlebte, war eine völlig neue körperliche und mentale Erfahrung. Das Wasser war so kalt, dass es schmerzte.“

Er kehrte um. Das verstörte ihn, weil ihm als Sportler fast alles gelungen war. In der Jugend war er ein ausgezeichneter Schwimmer. Später begeisterte er sich für Triathlon und löste, da war er schon 30 Jahre alt und Familienvater, das Ticket für den Ironman auf Hawaii, wo er 2003 immerhin Platz 183 belegte. 2006 gewann er einen Bahnradtitel bei der niedersächsischen Meisterschaft.

Tonne mit Eiswasser

Noch auf Ibiza schwor er, der Kälte zu trotzen und im nächsten Jahr die Boje zu erreichen. Er duschte nur noch kalt und baute sich in seinem Carport eine Tonne, in die er sich, bis zum Hals mit Eiswasser bedeckt, hineinhockte. „Man gewöhnt sich nie an die Kälte“, so Wiersig. Aber im Jahr darauf schockte ihn das kalte Mittelmeer nicht mehr. Er erreichte die Boje. In diesem Moment wusste er, dass er eine Chance hatte, den Ärmelkanal nach den puristischen Bestimmungen der Channel Swimming Association zu schaffen. Die Regeln besagen, dass man nur mit Badehose und Kappe schwimmen darf. Neoprenanzüge sind verboten. Deswegen haben viele Open-Water-Athleten Fettpölsterchen. Auch Wiersig, Typ breite Schultern. „Biopren“ nennt er seinen Schutzpanzer lächelnd: „Man braucht die Fettreserven für diesen einen Tag, den man schwimmt.“

Liebt inzwischen das Meer: André
Wiersig.
Liebt inzwischen das Meer: André Wiersig. © | André Wiersig /Dennis Daletzki

Als er den Ärmelkanal bezwang, stand noch die sportliche Herausforderung im Zentrum seiner Gedanken. Wiersig hatte sich mit der Kälte des Ärmelkanals beschäftigt. Auch mit der kalorienreichen Flüssignahrung, die man in den Pausen aufnehmen muss, um die Energieverluste auszugleichen. Natürlich mit den enormen Tiden und den starken Strömungen. Er verschob im Training die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit, auch weil er, zwischen Familie und Job von Hamburg nach Paderborn pendelnd, wenig Zeit hatte. „Manchmal stemmte ich so lange Gewichte, dass ich mich gar nicht mehr selbst anziehen konnte“, berichtet er. „Und danach stieg ich ins Wasser. Es ging mir dabei um die Erfahrung, in Zuständen totaler Erschöpfung trotzdem noch Leistung generieren zu können.“

Größte Herausforderung

All das half ihm, die langen Strecken bei teils widrigen Bedingungen zu bewältigen. Zugleich lernte er schnell, dass bei den „Ocean’s Seven“ viele Dinge nicht zu planen sind. Dass man sich mit dem, was auf offener See passiert, arrangieren muss. Er ist zwar ein schneller Schwimmer, er schafft in einer Stunde im Schnitt vier Kilometer, aber auf Hawaii geriet er in eine derart starke Strömung, dass er in fünf Stunden nur 500 Meter zurücklegte. „Darüber kann man sich dann aufregen“, sagt er. „Nützt aber nichts. Ich kann der beste Schwimmer sein, aber wenn der Ozean nicht mitspielt, habe ich keine Chance.“

Seine bisher größte Herausforderung war der North Channel, 2016. 35 Kilometer Strecke, böiger Wind, eiskaltes Wasser, brutale Strömung. Am Ende konnte er nicht mehr. Der Kapitän des offiziellen Begleitkutters sah das Elend, wollte abbrechen. Wiersigs Schwager, der ihn mit Nahrung versorgte, brüllte ihn an: „Du musst schneller schwimmen.“ Er schwamm schneller, erreichte im beginnenden Sturm den Felsen, schaffte es kaum die letzten Meter zurück aufs Boot. Fassungslos, dass er sich durchgekämpft hatte, sagte der Kapitän: „Mann, bin ich froh, dass es die Deutschen im Zweiten Weltkrieg nicht bis hier geschafft haben.“

Auch in den Kanälen in Neuseeland und Japan ging Wiersig an die Grenzen dessen, was ein Mensch physisch leisten kann. Aber mit der Zeit verschwand das ursprünglich gesteckte Ziel aus seinem Visier. Andere Dinge wurden wichtiger. Das, was ihm da draußen in der ungewohnten Umgebung widerfuhr, erlebte er immer intensiver.

„Man ist wahnsinnig verletzlich“

Als ihn in Japan die Kreuzsee, die aufeinanderschlagenden Wellen, förmlich in die Luft schleuderte, konnte er das genießen. Als er sich beim Start in diese Tsugaru Strait an einem Felsen hochzog, noch tief in der Nacht, weckte er eine Robbe und schaute ihr direkt in die Augen. Es schwammen Delfine mit ihm, einmal sah er einen Wal direkt unter sich. Wiersig schwärmt von dem Glanz, den ein Fischschwarm dicht unter dem Meeresspiegel durch das reflektierende Sonnenlicht entwickelt.

Was ihn heute am meisten bewegt, sagt er, ist die Fähigkeit des Wassers, ihn zu sensibilisieren. „Je länger es dauert, desto extremer ist das Empfinden. Man ist wahnsinnig verletzlich. Man merkt sofort, wenn das Wasser nur um einen Zehntelgrad kälter wird, man verschmilzt mit dem Meer.“ Umso schlimmer seien Berührungen mit Gegenständen, die nicht ins Meer gehörten. „Wenn ich gegen Plastik schwimme oder gegen anderen Müll oder wie im Ärmelkanal mit dem Kopf gegen eine Europalette, dann ist das, weil man sich vorher wie in einem Kokon wähnt, wie ein Schock.“

Gegen die rasant fortschreitende Verschmutzungin den Ozeanen engagiert sich Wiersig als Botschafter der in Hamburg ansässigen Deutschen Meeresstiftung. In dem Buch, an dem er derzeit arbeitet und das im Herbst erscheinen soll, wird es nicht nur um die Herausforderung der „Ocean’s Seven“ gehen, sondern auch um die Umweltzerstörung. Er wird auch weiter Vorträge zu seinem Lebensthema halten. Damals sei er ins Wasser gesprungen, weil er schwimmen wollte. „Heute schwimme ich, weil ich ins Meer will. Und weil ich es liebe.“