Wolfsburg. Ex-St.-Paulianer Marcel Halstenberg steht im EM-Qualifikationsspiel in den Niederlanden vor der ersten Bewährungsprobe.
Es war der 31. August 2015, als der FC St. Pauli via Twitter mit einer Nachricht überraschte: „Marcel Halstenberg wechselt nach Leipzig. Alles Gute, Halste!“ Dreieinhalb Jahre später kommt „Halste“ (27) in den Raum „Deli“ des Hotels Ritz Carlton in Wolfsburg. Leroy Sané sitzt gegenüber, Matthias Ginter nebenan und Julian Brandt ist auch noch da. Andere Nationalspieler geben in den Tagen vor dem so wichtigen Länderspiel in Amsterdam gegen die Niederlande (So, 20.45 Uhr/RTL) keine Interviews. „Moin“, sagt Halstenberg.
Hamburger Abendblatt: Herr Halstenberg, es wurde viel über die neue Nationalmannschaft gesprochen. Fühlen Sie sich nach der zweiten Nominierung noch als Frischling?
Marcel Halstenberg: Ich muss gestehen, dass ich bei der Kaderbekanntgabe die Geburtsdaten aller Spieler verglichen und mich fast erschrocken habe, wie wenige Spieler tatsächlich noch älter sind als ich. Bei den Feldspielern sind das nur Marco Reus und Ilkay Gündogan. So gesehen bin ich wahrscheinlich der älteste Frischling aller Zeiten (lacht).
Tornetze müssen Sie aber nicht schleppen?
Halstenberg: Wenn es etwas anzupacken gibt, dann helfe ich mit. Das hat für mich mehr mit Teamgeist als ausschließlich mit dem reinen Alter zu tun. Die Abläufe bei der Nationalmannschaft sind sehr professionell. Als Spieler können wir uns voll und ganz auf unsere Leistung konzentrieren. Abseits des Platzes merke ich manchmal schon, dass ich eher zu den etwas Älteren gehöre.
Wie das?
Halstenberg: Wenn zum Abschalten gemeinsam mal an der Playstation gespielt wird, reizt mich das nicht so sehr. Die ganze Altersgeschichte würde ich ohnehin nicht allzu hoch hängen. Ich bin jetzt 27 Jahre, das ist ein top Alter im Fußball. Wir sind hier alle auf einer Wellenlänge.
Stimmt es eigentlich, dass Sie selbst gar nicht mehr so richtig mit einer Nationalmannschaftskarriere gerechnet hatten?
Halstenberg: Naja, ich spielte ja noch vor drei Jahren in der Zweiten Liga beim FC St. Pauli. Da wäre es ziemlich vermessen gewesen, wenn ich von einer großen Nationalmannschaftskarriere gefaselt hätte. Mein großes Ziel war zu dem Zeitpunkt die Bundesliga, nicht die Nationalelf.
Geschafft haben Sie dann ja beides, bis …
Halstenberg: … bis ich dann durch meinen Kreuzbandriss extrem zurückgeworfen wurde. Wenn der Arzt plötzlich Kreuzbandriss sagt, muss man sich erst mal schütteln.
Deshalb haben Sie auch die WM verpasst.
Halstenberg: Ja, ich saß mit meiner Frau in Regensburg, wo ich meine Reha absolviert habe, und schaute mir die Weltmeisterschaft als Fan im Fernsehen an. Das frühe Aus in der Vorrunde hat die ganze Geschichte nicht unbedingt besser gemacht, da leidet man schon sehr mit den Jungs.
War Ihnen nach dem 0:2 gegen Südkorea klar, welche Folgen diese Pleite haben wird?
Halstenberg: Im ersten Moment war ich wie jeder andere Fan erst einmal nur traurig. Irgendwann wurde dann aber schon klar, dass es wohl einen Umbruch nach der WM geben würde. Und nun sind wir mittendrin in diesem Neuaufbau. Ich sehe das als Chance für unsere Mannschaft.
Brisantes Hamburger Derby:
HSV vs. St. Pauli – brisantes Hamburger Derby
Wie haben Sie von der Entscheidung erfahren, dass der Bundestrainer zukünftig nicht mehr auf Mats Hummels, Jérôme Boateng und Thomas Müller setzen will?
Halstenberg: Ich habe das auf meiner Kicker-App gelesen und war wahrscheinlich genauso überrascht wie viele andere in Deutschland. Joachim Löw hat eine sportliche Entscheidung getroffen. Irgendwann müssen die Alten für die Jungen Platz machen – auch wenn das jetzt hart klingen mag. Ich bin mir aber sicher, dass wir gute junge Spieler haben. Und ich hoffe, dass wir das auch in den nächsten Spielen zeigen können.
Ist ein Spiel gegen die Niederlande heutzutage noch etwas Besonderes?
Halstenberg: Natürlich. Auf solche Duelle freut man sich als Fußballer – viel mehr geht doch nicht. Und man muss auch anerkennend festhalten, dass die Holländer nach ihrem Tiefpunkt mit den zwei verpassten Turnieren einen verdammt guten Job gemacht haben.
Kann man von den Niederlanden lernen?
Halstenberg: Das sollte man sogar. Ich bin mir sicher, dass es extrem schwer ist, nach zwei verpassten Turnieren einen Neuaufbau zu starten. Aber die Niederlande haben das geschafft. Sie haben einiges geändert und sehr stark auf die junge Generation gesetzt. Nun wurden sie belohnt. Ich denke, dass die Favoritenrolle in diesem Spiel sogar 51 zu 49 Prozent bei ihnen liegt. Man muss ja nur mal zu Ajax Amsterdam schauen, was da gerade los ist …
Haben Sie Amsterdams Überraschungssieg gegen Real Madrid im Fernsehen gesehen?
Halstenberg: Ich habe die Zusammenfassung gesehen. Wahnsinns-Tore. Und wirklich sehr beeindruckend, wie selbstbewusst Ajax gegen Real aufgetreten ist.
International scheint Deutschland gerade ein wenig der Musik hinterherzulaufen.
Halstenberg: Es scheint im Moment tatsächlich so, dass im Clubfußball die eine oder andere Nation uns überholt hat. Ziemlich beeindruckend sind die Engländer, die mit vier Mannschaften im Champions-League-Viertelfinale stehen. Das muss das Vorbild sein. Wobei mich auch Eintracht Frankfurt in der Europa League beeindruckt hat. Die Frankfurter haben gezeigt, dass man auch in kurzer Zeit den Turnaround schaffen kann, nachdem sie nicht allzu gut in die Saison kamen.
Die Favoritenrolle in der Bundesliga wechselt derzeit von Woche zu Woche. Darf man als Leipziger und Ex-Dortmunder dem BVB gegen Bayern die Daumen drücken?
Halstenberg: Zunächst drücke ich uns Leipzigern die Daumen (lacht). Aber davon unabhängig darf ich natürlich zugeben, dass ich von klein auf immer großer Dortmund-Fan war. Mein Bruder auch. Wir haben echt viele Spiele im Stadion gesehen. Dass ich mal für den BVB gespielt habe, war eine besondere Station in meiner Karriere. Da ist natürlich eine besondere Beziehung hängengeblieben.
In Dortmund wurden Sie erst spät zum Linksverteidiger umgeschult.
Halstenberg: Genau. Ich war ja Innenverteidiger. David Wagner war dann mein Trainer und hat gesagt, dass ich mich mal ein paar Spiele als Linksverteidiger versuchen soll. Ich wollte das eigentlich überhaupt nicht. Als Außenverteidiger muss man die Linie ja immer hoch und runter laufen. Das war damals zunächst nicht meine Idealvorstellung von Fußball.
Aber?
Halstenberg: Irgendwie hat mich David Wagner dann doch überzeugt. Und fünf Spiele später, als er mich dann wieder zurück in die Innenverteidigung beordern wollte, konnte ich mir gar nichts anderes mehr vorstellen als Linksverteidiger. Das habe ich unserem Trainer dann auch gesagt. Und ab dem Moment war ich Linksverteidiger – zunächst bei Dortmunds U23, dann beim FC St. Pauli in der Zweiten Liga.
Haben Sie zum Kiezclub noch Kontakt?
Halstenberg: Klar. Besonders mit Christopher Buchtmann. Wir haben schon in der F-Jugend bei Hannover 96 zusammengespielt. Auch unsere Eltern kennen sich gut.
Mussten Sie beim Derby leiden?
Halstenberg: Und wie. Wir hatten in Leipzig Training, sodass ich mir das Spiel erst ab der 20. Minute angucken konnte. Und das hat dann echt wehgetan. Bis zum Derby sah es bei St. Pauli gut aus, aber die vergangenen beiden Spiele waren sehr bitter.
Was wird früher passieren: St. Pauli steigt auf oder Leipzig wird Meister?
Halstenberg: Am schönsten wäre, wenn beides passiert (lacht).