Madrid/Amsterdam. Während Amsterdam aus dem Häuschen ist, herrscht in Madrid Untergangsstimmung. Vor allem Kroos steht nach dem 1:4 am Pranger.
Den Niederländern kam es vor, als hätten sie was geraucht. "An einem halluzinierend schönen Abend erlebt Ajax das Wunder von Madrid", kommentierte die Zeitung De Volkskrant den Auftritt von Ajax Amsterdam in der Champions League, der die ganze Fußballnation berauscht zurückließ. Das 4:1 (2:0) der jungen Wilden im Achtelfinal-Rückspiel beim entthronten Titelverteidiger Real Madrid erinnerte an die glorreichen Zeiten des sechsmaligen Europacup-Siegers.
Die Medien spielten jedenfalls verrückt. Von einem "wunderbaren Kunststück", schrieb De Telegraaf. "Ajax gelang ein Wunder", titelte NRC Handelsblad: "Das war die beste Leistung einer niederländischen Mannschaft seit dem 5:1 der Nationalmannschaft bei der WM 2014 gegen Spanien." Die Zeitung Algemeen Dagblad hatte einen "magischen Abend" erlebt. Und De Volkskrant erkannte beim Erfolg gegen den Königsklassen-Gewinner der vergangenen drei Jahre "Fußball total 3.0."
Harte Medienkritik für Real Madrid
Mit Real gingen Spaniens Medien auf der anderen Seite wiederum erwartungsgemäß hart ins Gericht. Die Sportzeitung "AS" bezeichnete die Pleite "dröhnende Niederlage". Das Blatt erwartet, dass nach der "Niederlage des Jahrhunderts Köpfe rollen werden". Nach dem Scheitern im spanischen Pokal und bei zwölf Punkten Rückstand in der Meisterschaft auf den FC Barcelona hat Madrid in dieser Saison keine realistische Chance mehr auf einen Titel.
"Ajax reißt Real das Herz heraus", schreibt „Marca“ nach der höchsten Heim-Niederlage Madrids in der Champions League, die der spanische Club zuletzt dreimal gewonnen hatte. "Nach über 1000 Tagen Regentschaft in Europa erlebt man die schlimmste Champions-League-Pleite der Geschichte. So fällt ein Gigant auseinander." Auf Seite eins trug "Marca" das Team sogar zu Grabe. Über einem Foto des Bernabéu-Rasens war zu lesen: "Hier ruht ein Team, das Geschichte geschrieben hat".
Einen "totalen Schiffbruch" attestierte "El Mundo Deportivo" und bezeichnete die Niederlage gegen das stark aufspielende niederländische Team als "absolutes Fiasko".
Pressestimmen zu Real gegen Ajax (1:4)
Ajax erstmals seit 2003 im Viertelfinale
In einer spektakulären Partie hatten Hakim Ziyech (7.), David Neres (18.), Dusan Tadic (62.) und Lasse Schöne (72.) die Tore für Ajax geschossen. Marco Asensio war nur das zwischenzeitliche 1:3 gelungen (70.). Der niederländische Rekordmeister schaffte damit trotz der Niederlage im Hinspiel (1:2) zum ersten Mal seit 2003 den Einzug ins Viertelfinale und setzte damit ein deutliches Ausrufezeichen.
Nach der Vorstellung in Madrid ist es für Ajax in der Runde der besten Acht allerdings vorbei mit der Außenseiterrolle. Der erste Triumph in der Champions League seit 1995 scheint nicht unmöglich. Im Stadion freute sich auch der ehemalige Ajx- und Real-Profi Rafael van der Vaart mit seinen niederländischen Landsleuten.
Amsterdams Team wird auseinanderfallen
Die Europacup-Saison steht für den Club, der in der Gruppenphase zwei Remis gegen Bayern München holte (1:1 und 3:3), ohnehin unter dem Motto "jetzt oder nie". Schließlich werden nahezu alle Leistungsträger und Top-Talente mit europäischen Spitzenclubs in Verbindung gebracht. Die Mannschaft um Routinier Klaas-Jan Huntelaar (35) wird nach dem Ende der Spielzeit auseinanderfallen.
Frenkie de Jong ist schon fast weg. Der 21 Jahre alte Mittelfeldspieler wechselt im Sommer für eine Ablöse von 75 Millionen Euro plus elf Millionen an möglichen Bonuszahlungen zum FC Barcelona. Der spanische Meister ist zudem an Kapitän Matthijs de Ligt interessiert. Der 19-Jährige wird aber auch von der halben englischen Premier League, Juventus Turin und Paris St. Germain umworben. Aufgrund der großen Nachfrage verlangt Ajax 85 bis 90 Millionen Euro für das Verteidiger-Juwel.
Auch BVB und Bayern wollen Ajax-Stars
Nicht ganz so teuer sollen Donny van de Beeck, Kasper Dolberg, Ziyech und Tadic sein. Aber auch ihre Namen werden bei Topclubs gehandelt – Borussia Dortmund und die Bayern zählen unter anderem dazu.
Trainer Erik ten Hag, einst Coach bei der 2. Mannschaft von Bayern München, hat also keine Zeit zu verlieren, wenn er mit seiner Truppe etwas reißen will. Auf die Leistung im Bernabeu lässt sich jedenfalls aufbauen.
"Das war ziemlich nahe an der Perfektion", sagte der Trainer: "Ich hatte jede Menge Spaß beim Zuschauen." Die hatte auch de Ligt beim spielen. "Die komplette Mannschaft hat funktioniert", äußerte der Spielführer, der mehr will: "Wir haben den Bayern große Probleme bereitet. Wir haben den Titelverteidiger rausgeworfen. Wir können es weit schaffen."
Höchste Europapokal-Heimpleite für Real
Ziemlich geschafft waren auf der anderen Seite indes Toni Kroos und die Superstars des spanischen Rekordmeisters. Die Königlichen, die Regenten der Champions League, schritten gedemütigt, rat- und kraftlos vom Rasen des Estadio Santiago Bernabeu. 1011 Tage nach dem ersten von drei Champions-League-Titeln nacheinander wurde Real am Dienstagabend vorgeführt. Das 1:4 markierte die höchste Europapokal-Heimpleite Madrids.
Für Madrid endet eine ruinöse Woche
Erstmals seit 2010 steht der stolze Club aus der spanischen Hauptstadt nicht unter den letzten Acht der Königsklasse. Die Fans machten ihrem Frust lautstark Luft. Schließlich war die Pleite gegen Ajax der traurige Tiefpunkt einer ruinösen Woche, in der Real Champions League, Pokal und Meisterschaft verspielte – und zudem zweimal vor heimischer Kulisse den Clasico gegen den Erzrivalen FC Barcelona verlor. In der Copa del Rey war im Halbfinale Endstation, in La Liga beträgt der Rückstand kaum aufzuholende zwölf Punkte.
José Mourinho bringt sich in Stellung
Die Gemengelage dürfte Folgen haben. Besonders in Gefahr: Santiago Solari. Der Trainer hat das Scheitern Reals mitzuverantworten, einen Rücktritt schloss er am Dienstagabend aber aus. "Ich bin nicht hierhergekommen und habe den Club in einer schwierigen Phase übernommen, um aufzugeben", sagte der 42-Jährige, der seit Oktober 2018 im Amt ist. Seine Tage in Madrid dürften dennoch in absehbarer Zeit gezählt sein. Dass sich Ex-Coach José Mourinho aus der Ferne bereits selbst ins Gespräch brachte, passt ins Bild.
Zidane erkannte den Zerfall frühzeitig
Ob der Portugiese Madrid auf Anhieb zu alter Stärke führen könnte, scheint jedoch fraglich. Der Zerfall der erfolgsverwöhnten Mannschaft begann früher. Womöglich erkannte Zinedine Zidane, dass das Team seinen Zenit überschritten hatte, als der französische Coach Ende Mai 2018 überraschend das Ende der Zusammenarbeit verkündete. Als schwerwiegend erwies sich zudem der Abgang von Superstar und Tor-Garant Cristiano Ronaldo zu Juventus Turin. Als Führungsspieler und Goalgetter war der fünfmalige Weltfußballer nicht zu ersetzen.
Kritisierter Toni Kroos gibt sich trotzig
Spätestens im Sommer wird Real einen Umbruch einleiten müssen. Die Zukunft gehört Spielern wie dem brasilianischen Supertalent Vinicius Junior, dem 2014er-Weltmeister Kroos droht trotz Vertrag bis 2022 hingegen das Nachsehen. Nach einer abermals schwachen Vorstellung des Mittelfeldspielers stürzte sich Spaniens Presse auf Kroos. "Seine Batterien sind leer. Er hat keine Beine mehr, um wirkungsvoll zu erscheinen", schrieb Sport.
Doch während Trainer Solari die Fans um Verzeihung bat und viele Real-Profis die miserable Leistung einräumten, zeigte sich der deutsche Nationalspieler trotzig. "Ich finde, die Leute vergessen viel zu schnell, was in den vergangenen drei Jahren passiert ist“, sagte er. "Das wird nie wieder passieren, glaubt mir", betonte er auf Englisch. Dass er – im Gegensatz zu Barcelona-Torwart Marc-André ter Stegen – trotz seiner knapp fünf Jahre in Spanien praktisch nie die Landessprache spricht, macht ihn bei den Real-Fans gerade in Notzeiten nicht beliebter.
62 Prozent wünschen sich Trennung von Kroos
Gegen Ajax leitete der 29-Jährige mit einem Ballverlust das 0:1 ein. Auch sonst blieb Kroos – wie seit Wochen – schwach, setzte keine Akzente und leistete sich mehrere Fehlpässe. In einer Umfrage des Madrider Sportblattes "AS" sprachen sich 62 Prozent von rund 100.000 Teilnehmern dafür aus, künftig auf den Deutschen zu verzichten. Schlechtere Werte hatten nur Gareth Bale (92 Prozent) und der Brasilianer Marcelo (69).
Kroos selbst gab sich nach der Niederlage am Ende aber auch kleinlaut und selbstkritisch, er sprach von "Enttäuschung" und "fehlender Konstanz" im Team. "Es tut weh", sagte er. Auch für Kroos war am Dienstagabend wohl eine Ära zu Ende gegangen.
sid/dpa/HA