Hamburg. Die Parakanutin ist vor sechs Wochen Mutter geworden. Jetzt steigt sie langsam wieder ins Training ein – für das große sportliche Ziel.

Liam ist still, Äuglein geschlossen, Schläfchen und „lasst mich in Ruhe“. „Er ist wirklich pflegeleicht“, sagt Mama Edina Müller (35). Dann zieht sie ihm noch ein Strickjäckchen über, die Sonne scheint zwar auch über Wilhelmsburg, aber die Luft ist noch februarfrisch. Und Liam erst knapp sechs Wochen alt. Vorsicht also. Natürlich. Nichts ist wichtiger als dieser kleine Wurm, dieses verspätete Wunschkind. „Denn eigentlich“, sagt die junge Mutter, „sollte er ein Jahr früher kommen. Aber das klappte nicht.“

Das hätte dann besser in die Terminplanung gepasst. Tokio 2020 ist schließlich das große Ziel. Paralympische Spiele. Und ja: Deutschlands beste Parakanutin möchte dann wieder dabei sein auf ihrer Paradestrecke über 200 Meter im Kajak Einer. „Das Ziel hatte ich immer“, sagt die ehemalige Weltmeisterin, „wir mussten halt den Trainingsplan ändern und anpassen.“ Und abwarten und versuchen, was gehen wird – und was möglicherweise nicht. Und bitte: Sie ist ja nicht die erste Frau, die nach einer Geburt wieder in den Leistungssport einsteigt. „Nein, zu Laura Ludwig hatte ich noch keinen Kontakt“, erzählt sie. „Aber ich habe mich mit einigen Müttern aus der Kanuszene ausgetauscht.“ Und? Was nun? Was kommt? „Weiß man nicht, es kommt halt, wie es kommt.“

Grundlagenfitness wiederherstellen

So wie Liam. Der konnte es nicht abwarten. Vier Tage vor der geplanten Entbindung meldete er sich, wollte raus. Querschnittsgelähmte Frauen entbinden in der Regel früher, so weit, so normal. „Wir hatten eine Kaiserschnittgeburt für den 24. Januar vorgesehen, eine Woche vor dem Stichtag, aber dann ging es plötzlich schon los.“ Müller spürte auch Wehenschmerzen – „das hätte ich nicht gebraucht“. Kaiserschnitte werden häufig bei querschnittsgelähmten Müttern vorgenommen, auch wenn eine vaginale Geburt möglich wäre. Es ist sicherer und unkomplizierter. Und bei Müller ist auch alles bestens verlaufen. „Als wir nach Hause gekommen sind, war ich aber echt schlapp“, erzählt sie. Sport? „Ich mache nichts.“ Außer erholen. Die Sporttherapeutin am BG Klinikum Boberg hat zunächst ein Jahr Elternzeit beantragt.

Bei ihrem Sport aber will sie in der kommenden Woche wieder einsteigen. Auf dem Ergometer Kilometer fressen, Schritt für Schritt die Grundlagenfitness wiederherstellen. Aber auch anfangen, wieder Kraft aufzubauen. Schon Ende April will sie bei der nationalen Qualifikation in Duisburg wieder den Sprung in den Nationalkader schaffen und sich für die Weltmeisterschaft Ende August in Szeged (Ungarn) qualifizieren. Dort ist dann ein Platz unter den besten sechs das Ziel. Der würde zugleich die Startberechtigung für Tokio bedeuten. „Nur darum geht es“, sagt Trainer Arne Bandholz „Es ist sehr anspruchsvoll. Aber ich traue ihr das zu.“

Viel Stabilitätsübungen

Die aktuelle Arbeit mit Müller ist mal wieder Neuland für Hamburgs Trainer des Jahres 2015. Als er begonnen hatte, sie zu trainieren, musste er sich die Besonderheiten bei einer querschnittsgelähmten Kanutin anlesen und seine eigenen Erfahrungen machen. Und jetzt kommt diese Athletin aus einer Schwangerschaft. Nun denn. „Wir werden sehen, wie das so ist als Mutter. Kann sie wirklich abschalten, wenn sie trainiert?“, fragt sich Bandholz. Ein Trainingslager ist im Mai geplant, aber ob sie dann dabei ist, ist noch unsicher. Auf jeden Fall soll (und muss) Müller beim Trainingslager vor der WM im August dabei sein. Partner Niko und die Großmutter werden sich dann vor Ort um Liam kümmern, wenn die Mama auf dem Wasser ist. „Kaum einer traut mir zu, dass ich unter die ersten sechs bei der WM komme“, meint Edina Müller. „2020 werden aber auch noch vier weitere Plätze für Tokio vergeben – und spätestens dann will ich in alter Form sein.“

Natürlich ist so eine Geburt anstrengend. Und auch das Stillen kostet Kraft. Aber Edina Müller hatte ja Grundlagen. Noch zwei, drei Wochen vor der Geburt war sie im Kraftraum, hat viel Stabilitätsübungen gemacht und ist auf dem Simulator im Trockenen gefahren. „Nur nicht mehr auf der Alster, das war mir bei dem kalten Wasser doch zu gefährlich, falls etwas passiert.“ Sie hat ja sogar noch Wettkämpfe bestritten, quasi zu zweit. Zuletzt bei der deutschen Meisterschaft Ende August, im vierten Monat. Nicht krank, nur schwanger eben. Es war bislang ihr letztes Rennen.

Schwangerschaft wurde geheim gehalten

„Geschockt“ sei er gewesen, erzählt Arne Bandholz, als Müller ihn beiseitenahm und meinte: „Ich muss dir etwas sagen.“ „Als Trainer war das für mich eine Katastrophe, aber als Freund habe ich mich natürlich sehr für sie gefreut.“ Das war schon im Mai, in einem Trainingslager in Kienbaum. Dann haben sie alle einmal geschluckt, höchste Geheimhaltung vereinbart und durchgehalten. Erst spät, im frühen Winter, ließ sich für Außenstehende ahnen, dass da für Edina Müller ein neuer Lebensabschnitt beginnt.

„Ich musste mich natürlich an den Kleinen im Bauch und den veränderten Körper gewöhnen, wie jede andere Mutter auch“, erzählt sie. „Aber das ging gut. Beispielsweise das Aussteigen aus dem Rollstuhl machte keine Probleme.“ Nur beim Auto war es schwierig: „Ich konnte am Schluss den Stuhl nicht mehr reinziehen.“ Ein neues Fahrzeug mit Schiebetüren musste angeschafft werden.

Noch eine Herausforderung

Lebensgefährte Niko hat einen niedrigen Wickeltisch mit Unterfahrmöglichkeit gebaut, im Handel nicht erhältlich. Ebenso wenig wie ein Kinderwagen, der sich vor den Rollstuhl spannen ließe. Nur in Schweden und Israel gibt es entsprechende Modelle, schwierig zu besorgen. Wenigstens hat Edina Müller von dem Rollstuhl-Hersteller Molab ein Smartwheel-Vorderrad mit Gepäckträger bekommen, auf dem sie eine Babyschale befestigen kann, die sie dann vor sich herschiebt.

Sechs Wochen ist der Sohn jetzt alt und noch nicht mobil. Das wird sich ändern. Wie wird es mit einem Kind, das laufen kann? „Es wird sich alles ergeben“, ist sie sich sicher. Eine Bekannte aus dem Rollstuhlbasketball hat die Erfahrung gemacht, dass die Kleinen sich instinktiv auf die besondere Situation ihrer Mütter einstellen: „Sie wollen Schutz und Nähe. Sie laufen nicht weg.“

Heute liegt Liam eingemummelt in ein Tragetuch friedlich bei seiner Mutter vor der Brust und löst bei der Bäckereiverkäuferin im Reiherstiegviertel Begeisterung aus. Edina Müller mag es hier rund um den Stübenplatz, wo sie seit 2013 lebt. Zwar musste sie schon die Feuerwehr rufen, wenn mal wieder der Fahrstuhl zu ihrer Wohnung ausgefallen war, aber sonst ... „Hier ist große Vielfalt, ich liebe das. Jetzt haben wir auch noch einen Sushi-Laden bekommen.“ Trotzdem sucht die Familie ein Haus, das nicht zu weit weg ist von der Stadt. Noch eine Herausforderung. Baby, Wohnungssuche und Leistungssport – Edina Müller hat ein spannendes Jahr vor sich.