Manchester/Liverpool. Ein Künstler hat den Trainer der Reds auf einer Hauswand verewigt. Nun kann sein Team sogar Meister werden.

Das Spiel am Boxing Day hatte die alten Stars ins Stadion gelockt. Kevin Keegan, als Meisterspieler von 1979 noch heute beim HSV verehrt, Kenny Dalglish und Alan Shearer waren am Weihnachtsmittwoch dabei, als zum Ende von Liverpools Partie gegen Newcastle United stürmische Freude in der mythischen Spielstätte ausbrach. Für Trainer Jürgen Klopp und sein Selbstverständnis konnte das nur an dem 4:0-Erfolg seines Teams liegen. „Ich dachte, es sei wegen uns. Ich dachte: Wow, das ist nett, vielen Dank“, berichtete der Trainer später.

Nach eigener Aussage erfuhr der deutsche Coach der Reds erst nach dem Schlusspfiff, dass die euphorischen Zustände auch mit dem Geschehen in einem anderen Stadion zu tun hatten. Dort hatte Manchester City ziemlich überraschend 1:2 bei Leicester City verloren. Dennoch ein weiterer Triumph des „normal one“, wie sich Klopp in einer Pressekonferenz scherzhaft genannt hat – in Abgrenzung zum „special one“, José Mourinho von Manchester United und inzwischen arbeitslos.

In der Premier League sind erst 19 von 38 Spieltagen absolviert, es kann noch viel passieren. Doch die Chancen stehen nicht schlecht, dass Liverpool am Ende der Saison zum ersten Mal seit 1990 zum Meister gekürt wird. Sollte dann nach den wichtigsten Momenten auf dem Weg dorthin gesucht werden, dürfte es kein Vorbeikommen an den Tagen um Weihnachten geben. Der Titelkampf in England hat über die Feiertage möglicherweise seine entscheidende Wendung genommen.

Ohne Niederlage nach der Hinrunde

Während Liverpool durch den Sieg gegen Newcastle zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte ohne Niederlage nach der Hinrunde ist, hat Manchester City, der 100-Punkte-Champion der Vorsaison, die Aura der Unantastbarkeit eingebüßt und innerhalb von fünf Tagen so viele Niederlagen kassiert wie in der ganzen abgelaufenen Spielzeit: kurz vor Heiligabend gegen Crystal Palace (2:3) und am zweiten Weihnachtstag in Leicester.

Liverpools Vorsprung auf den Titelverteidiger, neuerdings nur noch Tabellendritter, ist über Weihnachten auf sieben Punkte gewachsen, der Abstand auf den neuen Zweiten Tottenham Hotspur beträgt sechs Zähler. Während sich Englands Medien gerade noch gefragt hatten, ob in der Premier League überhaupt ein Titelrennen stattfinde oder nicht ohnehin klar sei, dass die Mannschaft von Trainer Josep Guardiola die Saison wieder auf Platz eins abschließen werde, hat Liverpool die Meisterschaft nach den Festtagen selbst in der Hand.

Natürlich, Manchester City hat mit Verletzungen zu kämpfen. Bei den jüngsten Niederlagen machte sich besonders das Fehlen von Mittelfeld-Stabilisator Fernandinho bemerkbar. Doch das reicht nicht als Erklärung für den Verlust der Dominanz. Kevin De Bruyne, Guardiolas nominell bester Spieler, fehlte ja schon seit Beginn der Saison. Die Zwei-Spiele-Krise des Titelverteidigers ist eher auf entscheidende Schwächen bei der Konzentration und auf seltsame Ungenauigkeiten in der Offensive zurückzuführen.

Alles Kopfsache

Guardiola hat nun angekündigt, er müsse „reflektieren und nachdenken, was die Mannschaft braucht und wie ich ihr helfen kann“. Alles Kopfsache. „Gute Ergebnisse wirken Wunder. Nun sind da Zweifel.“ Es scheint sich zu bewahrheiten, was Fachleute schon länger sagen: dass sich City auf dem Weg zum zweiten Titel nacheinander nur selbst stoppen könne. Und dann gibt es in dieser Saison eben einen Konkurrenten, der gut genug ist, die Ausrutscher von Guardiolas Mannschaft zu nutzen.

Der wichtigste Grund für Liverpools makellose Hinrunde ist die Tatsache, dass es Klopp gelungen ist, den spektakulären Fußball, den seine Mannschaft zu spielen vermag, auf ein solides Fundament zu stellen. Liverpool hat erst sieben Gegentore kassiert (Tottenham steht bei 18, Manchester City bei 15 Gegentreffern) und spielte gegen Newcastle zum zwölften Mal in dieser Saison zu null. Während Klopps Mannschaft in der Vergangenheit oft anfällig und unberechenbar war, wirkt sie jetzt souverän und zuverlässig. Sie gewinnt auch schwächere Spiele – und zeigt in stärkeren wie gegen Newcastle eine Gala.

Klopp muss die Erwartungen moderieren

Neben seinen Aufgaben auf dem Platz muss Klopp künftig mehr als ohnehin schon die Erwartungen moderieren und verhindern, dass sich die Euphorie in Liverpools Umfeld in Übermut verwandelt. Sein Konterfei ist schon in bester Heldenverehrung auf einer Hauswand verewigt. Der Vorsprung an der Tabellenspitze „bedeutet nichts“, sagt er und verwies auf die nächsten Aufgaben.

Am Sonnabend ist der FC Arsenal zu Gast an der Anfield Road, am kommenden Donnerstag geht es zu Manchester City. Zu der Mannschaft, die gerade noch klarer Favorit auf den Titel war – und neuerdings fürchten muss, den Anschluss zu verlieren.