Hamburg. Titelverteidiger Magnus Carlsen und Herausforderer Fabiano Caruana ziehen in London um die Schach-Weltmeisterschaft.

Vor genau einem Monat hatte Magnus Carlsen in Hamburg seinen letzten öffentlichen Auftritt vor der Schach-Weltmeisterschaft, die heute um 16 Uhr (MEZ) im altehrwürdigen Gebäude „The College“ im Norden Londons beginnt. Der Norweger spielte auf Einladung des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ gegen zwölf Gegner simultan, erledigte dabei seinen Job kurz und schmerzlos. Nach gut einer Stunde war das denkende Dutzend matt gesetzt, gegen den HSV-Beachvolleyball-Nationalspieler Nils Ehlers (24) brauchte er dafür gerade mal acht Züge.

In London stehen für den 27 Jahre alten Weltmeister in den nächsten drei Wochen erneut zwölf Partien auf dem Programm, diesmal aber nur gegen einen Gegner. Und der hat es in sich: Der Italo-Amerikaner Fabiano Caruana (26), in Miami geboren und in New York aufgewachsen, liegt in der Weltrangliste fast gleichauf mit dem Titelverteidiger, bloß drei sogenannte Elo-Punkte trennen die beiden vor dem mit 900.000 Euro dotierten Duell der Köpfe. Die aktuelle Formkurve favorisiert den Herausforderer. Caruana gewann dieses Jahr vier Weltklasseturniere, darunter im März in Berlin das Kandidatenturnier zur WM, Carlsen nur zwei. Die persönliche Bilanz wiederum spricht für den in seiner Heimat als Superstar gefeierten Multimillionär. In zehn der 33 Duelle siegte Carlsen, Caruana triumphierte fünfmal, 18 Partien endeten remis. Auch in den drei diesjährigen Begegnungen griff Carlsen dreimal nach Caruanas wankendem König, konnte diesen indes nur einmal erobern. Zweimal fand der Weltmeister in vorteilhafter Stellung nicht den komplizierten Gewinnweg.

Die beiden stärksten Spieler der Welt sitzen sich gegenüber

Dass sich beim finalen Kampf um den Schachthron die beiden stärksten Spieler der Welt gegenübersitzen, ist aufgrund des auf zwei Jahre verkürzten Austragungsmodus, der auch Außenseitern gute Chancen einräumt, keine Selbstverständlichkeit mehr. Zuletzt war das vor zehn Jahren der Fall, als sich der Inder Viswanathan Anand und der Russe Wladimir Kramnik in Bonn auf den 64 Feldern bekämpften. Anand gewann damals – und verlor seinen Titel 2013 dann an Carlsen. „Diesmal gibt es kein Lamentieren über den Wert des WM-Wettkampfes, die Nummer eins und zwei der Welt treten gegeneinander an. Mehr geht nicht“, sagt Carlsen.

Caruana, der erste Amerikaner seit Bobby Fischer 1972, der nach der Krone greift, ist Carlsens bisher stärkster Kontrahent in seinem jetzt vierten WM-Match. Aber gerade diese Tatsache könnte ihm den Job erleichtern. Während sich vor zwei Jahren der Russe Sergej Karjakin gegen ihn fast ausschließlich aufs Verteidigen beschränkte, auf Carlsens Ungeduld und dessen hohe Risikobereitschaft setzte, auf Fehler wartete und auf Konter lauerte (ähnlich wie beim Ballbesitz-Fußball) und damit fast Erfolg gehabt hätte – Carlsen siegte erst in der Verlängerung nach vier weiteren Partien mit verkürzter Bedenkzeit –, geht Caruana gern selbst in die Offensive. Er ist immer auf der zeitraubenden Suche nach dem besten Zug, das zeichnet ihn aus, während sein Gegner schon mal praktische Lösungen bevorzugt. „Ich gehe meine Partien eher vom wissenschaftlichen Standpunkt an, auch wenn das Kraft kostet“, beschreibt Caruana seinen anspruchsvollen Spielstil.

Carlsen setzt auf sein strategisches Gespür

Carlsen dagegen vertraut seinem hervorragenden Positionsgefühl, setzt auf sein unnachahmliches strategisches Gespür für das Zusammenspiel seiner Figuren. Gerade in der Endphase der Partien, wenn nur noch wenige Steine auf dem Brett sind, bringt er seine Qualitäten effektiv ein. Und Carlsen kann sich bei den oft fünf- bis sechsstündigen Auseinandersetzungen auf seine starke Physis verlassen. Alle Weltklasseschachspieler absolvieren heute ein intensives Fitnessprogramm, für den Norweger ist das jedoch kein notwendiges Übel. Er spielt leidenschaftlich Fußball und Volleyball, bei Turnieren, an denen er teilnimmt, müssen für sein persönliches Wohlbefinden stets ein paar Fußballspiele organisiert werden. Auf den WM-Kampf habe er sich aber mit Pokern, Pizza und Premier-League-Spielen vorbereitet, verbreitete Carlsen unlängst in den sozialen Medien seine „3P-Formel“. Caruana entlockte das nur einen süffisanten Kommentar. Der aber saß: „Die meisten Topspieler sind sehr selbstbewusst, manche sogar arrogant. Für Magnus ist es besonders schwer, dass ihm sein unglaublicher Erfolg nicht zu Kopf steigt.“ Seine Großmeisterkollegen könnten sich deshalb wohl mit dem Ende der Ära Carlsen gut arrangieren.

Auch Beachvolleyballer Nils Ehlers hat mit Carlsen noch eine Rechnung offen. Nach seiner Simultan-Niederlage bot er ihm eine Revanche im Sand an. Carlsen willigte sofort ein. Beim nächsten Hamburg-Besuch will er erst mal ins Beachcenter im Stadtteil Dulsberg fahren – als Weltmeister natürlich.

Der WM-Kampf kann auf chessbase.de live verfolgt werden. Der Ulmer Großmeister Klaus Bischoff und der Hamburger Internationale Meister Oliver Reeh kommentieren.