London . Das längste Halbfinale der Geschichte Wimbledons hat Kräfte gekostet. Wie Kevin Anderson im Finale Kräfte mobilisieren will.

Den schönsten Satz sagte Kevin Anderson, als er der Eistonne entstiegen war und frisch geduscht sowie halbwegs wieder bei Kräften in der Pressekonferenz saß. „Natürlich bin ich stolz und sehr froh, dass ich mein erstes Wimbledon-Finale erreicht habe. Aber ich wünschte, dass unser Spiel unentschieden hätte ausgehen können. Ich weiß nicht, wie man eine Niederlage nach so einem Match verkraften kann“, sagte der 32 Jahre alte Südafrikaner. 6:36 Stunden hatte der Weltranglistenachte zuvor auf dem Centre-Court gestanden, bis am Freitagabend bei den All England Championships in Wimbledon sein 7:6 (8:6), 6:7 (5:7), 6:7 (9:11), 6:4, 26:24-Sieg über den US-Amerikaner John Isner (33/Nr. 10) festgestanden hatte.

Das längste Halbfinale der Geschichte des weltbekanntesten Tennisturniers war gleichzeitig auch das zweitlängste Match, das jemals an der Church Road gespielt wurde. Länger trieben es nur der Franzose Nicolas Mahut und Isner, die für ihr Erstrundenmatch 2010 11:05 Stunden Spielzeit, verteilt auf drei Tage, benötigten, ehe der US-Amerikaner den Entscheidungssatz mit 70:68 gewinnen konnte. Ein Trost sei es mitnichten, nun diese Rekorde halten zu dürfen, sagte der völlig niedergeschlagene Verlierer nach dem Match. „Ich fühle mich furchtbar. Die Enttäuschung, dieses Match verloren zu haben, ist wesentlich größer als das Gefühl, hier nun mehrfach in der Rekordliste zu stehen“, sagte der Aufschlaggigant, der in diesem Wimbledon-Turnier mit 213 Assen eine weitere Bestmarke aufstellte.

Diskussion entfacht

Das unfreiwillige Rekordmatch brachte eine Diskussion zurück auf die Tagesordnung, die es in schöner Regelmäßigkeit immer wieder gibt. „Ich habe das schon mehrfach gesagt und denke, dass es an der Zeit ist, die No-Tiebreak-Regel im fünften Satz bei Grand-Slams endlich flächendeckend abzuschaffen“, sagte Isner. Nur bei den US Open wird im fünften Satz ein Tiebreak gespielt. Die Australian und French Open halten es wie Wimbledon. „Ich denke, es sollte um die Gesundheit der Spieler gehen, deshalb wäre es sinnvoll, den Tiebreak überall einzuführen. Ich sehe nicht, welchen Nutzen sie haben könnte, wohl aber den Schaden, den sie anrichtet“, sagte Anderson, der als Kompromiss vorschlug, statt wie in den Sätzen eins bis vier bei 6:6 im fünften Satz bei 12:12 die Entscheidung durch Tiebreak herbeizuführen.

Wie sie es geschafft hatten, über eine so lange Spieldauer die mentale und körperliche Kraft aufrecht zu erhalten, konnten beide Protagonisten nicht wirklich erklären. Sie hätten über die gesamte Spielzeit immer wieder kleine Mengen an flüssiger und fester Nahrung zu sich genommen und deshalb ausreichend Energiereserven gehabt. „Ich fühlte mich das ganze Match hindurch okay. Das Adrenalin hält einen am Leben. Wenn das nicht mehr da ist, fühlt es sich umso schlimmer an“, sagte Isner, der über eine heftige Blase am Fuß klagte.

Anderson will alles geben

Anderson, der im Viertelfinale Titelverteidiger Roger Federer (36/Schweiz) ebenfalls in fünf Sätzen und 4:14 Stunden bezwungen hatte, erklärte, er habe gespürt, wie die Kräfte schwanden. „Meine Füße sind geschwollen, die Beine fühlen sich an wie Gummi“, sagte er. Wie er es schaffen wolle, bis zum Finale am Sonntag um 15 Uhr wieder alle Speicher aufzufüllen, konnte der US-Open-Finalist von 2017 nicht sagen. „Ich muss sehen, wie ich mich morgen fühle. Aber ich stehe im Finale des wichtigsten Turniers der Welt. Da werde ich alles geben, um mir nun auch die zweite Hälfte meines großen Traums erfüllen zu können“, sagte er.

Außenseiter wäre Anderson, so viel ist klar, auch ohne das Rekordmatch in den Knochen gewesen. Schließlich hat er noch keinen Grand-Slam-Titel geholt, die beiden Topstars, die im zweiten Halbfinale standen, dafür gemeinsam schon 29. Allerdings sind auch die Bedingungen für den spanischen Weltranglistenersten Rafael Nadal (32), der zwei seiner 17 Majorsiege in London schaffte, oder den Serben Novak Djokovic (31/Nr. 21), der drei seiner zwölf Grand-Slam-Titel in Wimbledon gewinnen konnte, alles andere als optimal. Ihr Match wurde am Freitagabend um 23.02 Uhr Ortszeit beim Stand von 6:4, 3:6, 7:6 (11:9) für Djokovic abgebrochen und auf Sonnabend verlegt.

Harter Test

Dass ein Halbfinale zweier solcher Ausnahmespieler unter der fragwürdigen No-Tiebreak-Regel in dieser Form leiden musste, dürfte die Diskussionen um deren Abschaffung ebenfalls anfachen. Das hochklassige Match hätte, ohne die Energieleistung der beiden Aufschlaggiganten schmälern zu wollen, deutlich mehr Aufmerksamkeit und eine bessere Vorbereitung verdient gehabt. John Isner, den mit Anderson eine Freundschaft verbindet, ist deshalb auch sicher, dass am Sonntag kein einseitiges Finale droht.

„Kevin hat einen sehr harten Test vor sich, Nadal oder Djokovic sind selbstverständlich der große Favorit. Aber sie haben noch weniger Zeit, sich zu erholen und vorzubereiten. Wenn Kevin so aufschlägt und so konzentriert bei seinem Plan bleibt, wie er es gegen Roger und mich gemacht hat, dann hat er eine Chance. Ich weiß, dass er alles dafür tun wird, dass diese heutige Quälerei nicht umsonst war“, sagte er. Es war der zweitschönste Satz des Abends.