Berlin. Das 1:7 im WM-Halbfinale veränderte das Land. Bei der Neuauflage setzt Brasilien auf einen Hoffnungsträger mit passendem Namen.

Es gibt da dieses Foto. Ein brasilianischer Junge ist darauf zu sehen. Barfuß, rot-schwarzes Fußballtrikot einer lokalen Favela-Mannschaft, weiße Sporthose. Er steht vor einem gelben Farbeimer, in seiner rechten Hand ein Pinsel. Das Foto wurde im WM-Sommer 2014 in São Paulos Armenviertel Peri Jardim aufgenommen und zeigt, wie der Junge die gepflasterte Straße sorgfältig in Grün und Gelb anpinselt. In den Farben Brasiliens.

Knapp vier Jahre später steht dieser Junge auf dem Rasen des Berliner Olympiastadions. Abschlusstraining der brasilianischen Nationalmannschaft vor dem Länderspiel gegen Deutschland (20.45 Uhr/ZDF live). In der Hand kein Pinsel, aber am Fuß ein Ball. Und nicht mehr barfuß, sondern mit weißen Fußballschuhen. Sein Name: Gabriel Jesus. Mittlerweile Fußballprofi von Manchester City, Nationalspieler, Olympiasieger 2016 und der größte Hoffnungsträger einer ganzen Nation, die noch immer das geschichtsträchtige WM-Halbfinale zwischen Deutschland und Brasilien nicht überwunden hat. 1:7 hatte die Seleção am 8. Juli 2014 verloren – und von Jesus‘ grün-gelb gepinselter Straße war schon bald nichts mehr zu sehen.

„Ich bin Brasilianer. Und ich denke, dass alle Brasilianer im Sommer 2014 gelitten haben“, sagt Jesus heute, als er auf das epochale 1:7 angesprochen wird. „Es war eine traurige Geschichte, aber diese Geschichte ist vorbei. Wir haben jetzt ein anderes Spiel vor uns, eine andere Atmosphäre, eine andere Geschichte“, sagt der 20-Jährige.

1:7 dient in Brasilien als Metapher

Die Geschichte von damals, als Jesus noch kein Profis war, sondern Straßen anmalte, ist schnell erzählt: Nach nicht einmal einer halben Stunde hatte die DFB-Auswahl bereits fünf Tore erzielt. Müller, Klose, zweimal Kroos, Khedira. Bum, Bum, Bum, Bum, Bum. Nach zwei weiteren Schürrle-Toren in der zweiten Halbzeit waren es am Ende einer historischen Nacht sieben Treffer – und ein ganzes Land war am Boden.

Seitdem ist dieses 1:7 eine Metapher in Brasilien für „schwere Niederlage“. Als Ex-Präsidentin Dilma Rousseff abtreten musste, schrieben die Zeitungen: Rousseff verliert 1:7. Mit „Gol da Alemanha“, also: Tor für Deutschland, umschreiben Brasilianer ein schweres Missgeschick.

Und nun, knapp vier Jahre nach dem noch immer traumatischen 1:7, soll Jesus für Brasiliens Auferstehung sorgen. Diesen Satz kann man sich nicht ausdenken. „Gabi ist einer der talentiertesten Stürmer weltweit“, lobt Manchesters Teamkollege Ilkay Gündogan. „Wir sind bei City froh, dass wir ihn für einen überschaubaren Preis bekommen haben.“

32 Millionen Euro ist der überschaubare Preis, den Manchester City im Januar 2017 für das Offensivtalent zahlte. Der gerade einmal 1,75 Meter kleine Sturmfloh hatte zuvor nur anderthalb Jahre als Profi bei Palmeiras São Paulo gespielt, wurde direkt brasilianischer Meister und Olympiasieger. Vor allem aber stand Jesus nicht bei der Mutter aller Niederlagen im WM-Halbfinale in Belo Horizonte auf dem Platz, die sich bis heute tief in das Bewusstsein der Nation gebrannt hat.

Alle acht Gruppen der WM 2018 in Russland

Gruppe A

RusslandSaudi-ArabienÄgyptenUruguay

Gruppe B

PortugalSpanienMarokkoIran

Gruppe C

FrankreichAustralienPeruDänemark

Gruppe D

ArgentinienIslandKroatienNigeria

Gruppe E

BrasilienSchweizCosta RicaSerbien

Gruppe F

DeutschlandMexikoSchwedenSüdkorea

Gruppe G

BelgienPanamaTunesienEngland

Gruppe H

PolenSenegalKolumbienJapan

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Tites Frau fing an zu weinen

„Die Niederlage hat wehgetan und sie tut noch immer weh“, räumt Brasiliens Nationaltrainer Adenor Leonardo Bachi, genannt Tite, am Montagabend im Bauch des Olympiastadion ein.

Der 56-Jährige hat ein freundliches Gesicht, wache Augen und tiefe Lachfalten. Doch bei der schlimmsten Demütigung der brasilianischen Fußballgeschichte hört der Spaß auf. Dem „Kicker“ sagte Tite vor Kurzem: „Nach dem dritten Gegentor fing meine Frau an zu weinen. Auch ich fragte mich, was da gerade passiert.“

Immerhin: Tite, der im Sommer 2016 die Seleção vom entlassenen Carlos Dunga übernommen hatte, scheint vor der WM 2018 die richtigen Antworten gefunden zu haben. Von der 1:7-Mannschaft von damals sind in Berlin nur noch Marcelo, Willian, Fred, Paulinho und Dani Alves dabei. Der studierte Sportlehrer Tite, der auf ein variables 4-1-4-1-System setzt, hat das Kunststück geschafft, eine Mischung aus Ordnung und Talent zu kreieren. „Tite kombiniert die starken Einzelspieler, die Brasilien weiterhin hat, mit einer gesamtmannschaftlichen Strategie“, sagt der frühere Nationalspieler Cacau im Gespräch mit dem Abendblatt. „Tite ist inspiriert von Pep Guardiolas Manchester City. Heute arbeiten sogar die Stürmer mit nach hinten“, sagt Cacau.“ „Das ist für Brasilien nicht selbstverständlich.“

Weniger Abhängigkeit von Neymar

Alles andere als selbstverständlich ist aber vor allem, dass nicht einmal das Fehlen von Superstar Neymar o país do futebol, das Land des Fußballs, ins Wanken bringt. Während die Rückenverletzung von Neymar die Nation 2014 schon vor dem 1:7 ins Tal der Tränen stieß, wird in Berlin nun ganz sachlich zur Kenntnis genommen, dass der Zauberfußballer von Paris Saint-Germain erneut nach seiner Mittelfuß-Operation fehlt. „Fußballerisch ist Neymar unantastbar“, sagt zwar Cacau. „Aber Brasilien ist heute weniger abhängig von ihm als noch 2014.“

Doch genug von diesem 2014, von diesem 1:7 und von dieser Mutter aller Niederlagen. „Wir sprechen so viel über Brasilien und Deutschland wegen dieses einen Spiels“, sagt Gabriel Jesus, der Junge mit dem Farbeimer von damals. Und dann prophezeit Hoffnungsträger Jesus: „Diesmal müssen sich auch die Deutschen den Kopf zerbrechen, um uns aufzuhalten.“

Dank Jesus weiß die Fußballnation Brasilien: Es gibt ein Leben danach.