Innsbruck. Ihm gelang 2002 als Grand-Slam-Sieger der Vierschanzentournee etwas bislang Einzigartiges. Nun könnte er seinen Rekord verlieren.

In Innsbruck wird es stürmisch. Am Tag vor dem dritten Springen der Vierschanzentournee (Donnerstag, 14 Uhr/ZDF) pfeift ein strammer Wind rund um die Bergisel-Schanze. Schwierige Bedingungen für die besten Skispringer der Welt, es könnte wie schon in Oberstdorf ein unvorhersehbarer Wettbewerb werden. Sven Hannawald spielt das in die Karten. Der 43-Jährige hat bisher als Einziger alle vier Springen bei einer Tournee gewonnen – dass sich daran nichts ändert, wünscht sich Hannawald, der den Wettbewerb für Eurosport als Experte begleitet.

Herr Hannawald, was bedeutet Ihnen Einzigartigkeit im Leben?

Sven Hannawald: Jeder Mensch lebt von seiner besonderen Art, von seiner Einzigartigkeit. Man wird aber doch immer wieder von außen beeinflusst, erlebt Dinge, die besser sind, und hat das Gefühl, diese Dinge nachahmen zu müssen. Aber Sie meinen das eher in Bezug auf die vier Springen bei der Tournee, oder?

Da sind Sie einzigartig. Bisher jedenfalls.

Hannawald: Ich lebe gerne in der Gemeinschaft, aber als Sportler war ich es gewohnt, mir Ziele zu setzen und diese zu erreichen, wodurch sich Einzigartigkeit ergibt. Darauf kann man auch stolz sein.

Das können Sie ja auch bleiben, denn Ihre Leistung kann nicht verbessert, sondern nur wiederholt werden.

Hannawald: Das stimmt beim Grand Slam natürlich. Ich bin ehrlich: Ich fiebere auch immer mit, dass ich der Einzige bleibe, der das geschafft hat. Für mich persönlich, aber auch für die gesamte Tournee, habe ich es eigentlich am liebsten, wenn es nach Garmisch schon den zweiten Sieger gibt.

Skispringer Freitag in Innsbruck vorn dabei

Und jetzt sieht es so aus, als wären Ihre vier Siege 2001/2002 kein Rekord für die Ewigkeit, sondern nur einer für 16 Jahre.

Hannawald: Es war ja schon 2004/2005 so richtig knapp, als Janne Ahonen allen anderen Springern voraus war und am Ende Martin Höllwarth noch in Bischofshofen gewann. In diesem Jahr scheint es so, als würde Kamil Stoch eine eigene Tourneegeschichte schreiben. Ihn zeichnet gerade eine unglaubliche Stabilität aus; er strahlt trotzt allen Widrigkeiten eine immense Ruhe aus.

Wenn Kamil Stoch in Innsbruck, dem vorletzten Springen, gewinnt, was würden Sie dann am 6. Januar in Bischofshofen nach einem möglichen vierten Sieg von ihm machen?

Hannawald: Wenn es dazu kommt, dass er tatsächlich alle Springen gewinnt, werde ich der Erste sein, der gratuliert. Weil ich weiß, was alles dazugehört. Streng genommen hat es am Ende nur noch wenig mit dem Skispringen zu tun. Spätestens nach dem dritten Sieg in Innsbruck setzt sich ein unglaubliches Gedankenkino in Gang.

Man sagt in solchen Drucksituationen immer: Kopf ausschalten. Geht das überhaupt? Was denkt man vor dem letzten Sprung in Bischofshofen?

Hannawald: Man will einfach nur noch, dass es vorbei ist. Wie es ausgeht, ist dabei fast egal, denn man möchte ja einfach nur Ski springen. Man hofft, dass der Sprung einigermaßen gelingt, denn richtig konzentrieren kann man sich darauf ohnehin nicht mehr.

Würde es Sie denn ärgern, wenn Stoch das gleiche Kunststück gelingen würde?

Hannawald: Ich gehe jedenfalls nicht nach Hause und drehe vollständig durch ...

Werden Sie Richard Freitag noch ins Gewissen reden, dass er wenigstens ein Springen gewinnt?

Hannawald: Nein, ich werde da keinen wild machen und Unruhe reinbringen. Richard hat definitiv noch sehr, sehr gute Chancen, endlich nach so vielen Jahren die Tournee für Deutschland zu gewinnen. Allerdings hat Stoch nach der ersten Weltcup-Periode aufgeholt. Ich sehe die beiden als alleinige Entscheider der diesjährigen Tournee. Es würde mich wundern, wenn sich noch etwas drehen sollte und ein Dritter dazukäme.

Stoch ist mit Jens Weißflog, Thomas Morgenstern, Espen Bredesen und Matti Nykänen im elitären Zirkel von fünf Springern, die Weltmeister und Olympiasieger waren, die Tournee und den Gesamtweltcup gewonnen haben. Würde der Gewinn des Grand Slam ihn zum besten Springer der Geschichte machen?

Hannawald: Ich mag solche Vergleiche nicht. Jeder Springer muss für seine Zeit gesehen werden. Hört ein Springer auf, ist das Kapitel abgeschlossen und nicht mehr vergleichbar. Für mich und auch andere Springer kann ich wohl sagen, gut damit zu leben, einer der Besten gewesen zu sein. Den einen Besten gibt es nicht.

Denken Sie noch heute an den Winter 2001/2002?

Hannawald: Ja, der macht mich ja aus. Die Tournee war für mich als Junge der Startpunkt, weshalb ich mit dem Skispringen beginnen wollte. Wenn du dir dann den Traum erfüllen kannst, die Tournee zu gewinnen, bist du der glücklichste Mensch auf Erden. Dieses Gefühl als kleiner Junge ist in mir geblieben, auch wenn einige schlechte Jahre dabei waren. Eine Stimme in mir hat aber immer gesagt: Mach weiter.

Zwei Jahre danach ging es Ihnen gar nicht gut. Sie hatten einen Burn-out und beendeten Ihre Karriere. Mit welchem Gefühl, mit welchen Erinnerungen kommen Sie heute zu den Schanzen?

Hannawald: Für mich ist das eine ganz analytische Rechnung: Umso höher man hinaus möchte, desto mehr muss man sich fordern. In meinem Fall war es extrem, ich war ja beinahe von Ehrgeiz und Perfektionismus zerfressen. Auf der anderen Seite habe ich meinen Jugendtraum gelebt. Dafür muss man viel bezahlen. In meinem Fall war es das Körperliche: Mir war früh bewusst, dass es mit dem Profisport nicht lange funktionieren würde.

Ist es vorstellbar, dass Severin Freund und Richard Freitag noch einmal so einen Boom auslösen, wie Sie und Martin Schmitt es einst taten?

Hannawald: Einen ähnlichen Zuschauer-Boom in den Stadien erleben wir gerade. Das andere wird es so nicht mehr geben. Wir hatten mit RTL einen Fernsehsender, der uns gepuscht hat. Die Öffentlich-Rechtlichen fahren ein anderes Konzept, sie informieren die Öffentlichkeit. Für einen Boom aber musst du Vollgas geben, die Sportart ins Dauerprogramm aufnehmen, damit die Leute aufmerksam werden. Die Sportler jetzt sind auch erfolgreich, aber das geht ein wenig unter.

Sie kommentieren bei Olympia in Pyeongchang für Eurosport. Wie wollen Sie die Zuschauer fesseln?

Hannawald: Wir gehen das umfangreich an wie damals RTL, haben noch mehr technische Möglichkeiten. Jeder Sportinteressierte kann den Wettkampf zu jeder Tages- und Nachtzeit verfolgen.

Ihre Springergeneration ist als Experte sehr gefragt: Andreas Goldberger macht fürs ORF sogar noch immer Probesprünge. Im Fußball sind Legendenspiele sehr angesagt. Wäre das nicht auch etwas für Skispringer?

Hannawald: Es gibt ja Senioren-Weltmeisterschaften, wobei es den Teilnehmern dort leider vorher verwehrt geblieben war, den großen Erfolg zu holen. Wenn man aber mal mit dem Thema aktives Springen durch ist, hat man auch schon viele Nerven gelassen. Ich bin daher froh, beim Skispringen dabei sein zu dürfen – allerdings passiv.