Oberhausen. Vor einem halben Jahr konnte er kaum laufen. Jetzt hat der “Diamond Boy“ den Titel als erster Deutscher seit Max Schmeling gewonnen.

Am Ende wurden doch noch Fragen zugelassen auf der offiziellen Pressekonferenz im VIP-Raum der König-Pilsener-Arena. Aber die Antworten interessierten keinen mehr so recht, denn Manuel Charr hatte längst alles gesagt. Eine gute halbe Stunde lang hatte der neue WBA-Weltmeister im Schwergewichtsboxen gebraucht, um sich nach seinen einstimmigen Punktsieg (116:111, 115:111, 115:112) über den Russen Alexander Ustinow bei all seinen Mitstreitern zu bedanken, und um zu erklären, was das wahre Ziel seiner Mission gewesen war: „Ich wollte beweisen, dass nichts unmöglich ist. Wer an sich glaubt, hartnäckig ist und hart arbeitet, der wird dafür belohnt. Und ich weiß, dass ich es ohne Hilfe nie geschafft hätte. Deshalb ist dieser Titel für Deutschland und für euch alle“, sagte er.

Bürgerkriegsflüchtling aus dem Libanon

Wer hätte dem Kölner seinen emotionalen Ausbruch verdenken mögen angesichts seiner Lebensgeschichte, dieser für das Boxen so typischen und doch gleichzeitig einzigartigen Reise, die der als Mahmoud Omairat Charr im Libanon geborene Bürgerkriegsflüchtling hinter sich gebracht hat?

Die Jugend in Deutschland bestand aus Klauen und Prügeln, er wurde niedergestochen, saß mehrfach in Untersuchungshaft und wurde doch freigesprochen, erlitt im Sommer 2015 nach einem Streit aus nichtigem Anlass einen Bauchschuss, zog sich zurück, änderte sein Leben radikal – und musste in diesem Frühjahr wegen angeborener Dysplasie zwei künstliche Hüftgelenke eingesetzt bekommen. „Das Leben hat mich 33 Jahre lang geschlagen. Heute Abend habe ich das Leben zurückgeschlagen“, fasste er seine Gefühlswelt in Worte.

Nun ist er also Weltmeister, dieser Manuel Charr, und natürlich wird es vielen Boxfans ein wenig blümerant werden angesichts einer solchen Menge an Pathos, vielmehr aber noch, weil dieser Kampf niemals WM-Status hätte haben dürfen. Nicht nur, dass die WBA der einzige der vier bedeutenden Weltverbände ist, der über dem regulären Weltmeister noch einen Superchampion führt – im Schwergewicht ist das der britische Klitschko-Bezwinger Anthony Joshua –, was den regulären Titel grundsätzlich abwertet.

Charr taktisch klug und athletisch beeindruckend

Nein, es durften um diesen Titel zwei Männer kämpfen, von denen der eine 16 Monate nicht im Ring gestanden, gegen seine einzigen drei Weltklassegegner klar verloren hatte und mit zwei künstlichen Hüften Leistungssport betreiben muss. Und von denen der andere als 40-Jähriger noch gegen keinen einzigen Weltklassemann gekämpft hatte, nach einer eineinhalbjährigen Kampfpause mit einem in Runde eins gewonnenen Aufbaukampf das WM-Recht erhielt – und in Oberhausen den Eindruck hinterließ, dass ihm selbst zwei neue Arme nicht hätten helfen können.

Dass weder Charr noch Ustinow in den Ranglisten der anderen drei großen Verbände WBO, IBF und WBC unter den Top 15 geführt werden, sagt viel aus über die irrlichternde Ansetzungspolitik der WBA. Die Weltmeister Joshua (WBA Super/IBF), Deontay Wilder (USA/WBC) und Joseph Parker (Neuseeland/WBO) werden sich, um es höflich auszudrücken, nicht gerade in den Schlaf zittern, wenn sie den Namen des neuen WBA-Champions hören.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Manuel Charr an diesem ganzen Regelgewirr keine Schuld trifft. Er hat die Chance wahrgenommen, die ihm geboten wurde, und das tat er mit einer konzentrierten, taktisch klugen und athletisch beeindruckenden Vorstellung. Er ließ den langsamen, mit 2,02 Metern zehn Zentimeter größeren und mit 127 Kilogramm rund 20 Kilo schwereren Russen in den ersten Runden schlagen, konterte ab Runde fünf gefährlich, schickte Ustinow mit einem blitzsauberen linken Kopfhaken in Runde acht zu Boden und boxte seine Führung anschließend souverän über die Zeit. In einem Duell auf maximal durchschnittlichem Niveau war er der bessere Mann, und das gilt es anzuerkennen.

Österreicher investierte in Charrs WM-Chance

Vergessen sollte man den Unsinn, der Nachfolger von Max Schmeling sei nach 85 Jahren endlich gefunden. Den Status des deutschen Schwergewichtsidols wird niemand je erreichen. Dem von vielen Seiten wiederholt geäußerten Zweifel daran, dass Charr seit eineinhalb Jahren tatsächlich den deutschen Pass besitzt, stehen die Beteuerungen des Boxers und seiner Manager gegenüber.

Doch letztlich ist nicht wichtig, ob Charr, der von den 5000 Fans nur mit „Mahmoud“-Sprechchören angefeuert wurde, nun der erste deutsche Schwergewichtschampion seit Schmeling ist oder der erste arabische Weltmeister in der Geschichte der Königsklasse. Sein Ziel ist ein anderes: der erste Weltboxer zu werden, um für den Frieden auf dem ganzen Planeten zu werben.

Manuel Charr war immer schon ein Stück weit größenwahnsinnig, aber er hat immer an seine Stärke geglaubt, und mit dem Österreicher Christian Jäger hat der „Diamond Boy“ einen Geldgeber gefunden, der diesen Glauben teilt. 1,5 Millionen Euro hatte der Unternehmer für die WM-Chance investiert, nun könnte sich dieses Risiko auszahlen, wenn es tatsächlich zu den Duellen kommt, von denen Charr träumt.

„Ich will nur die Besten boxen, um zu beweisen, dass ich der Beste bin“, sagte er. Eine Woche Urlaub mit seiner Frau steht nun an, anschließend will er mit seinem Team die nächsten Schritte beraten. „Ich habe vor nichts Angst. Wenn ihr mir einen T-Rex in den Ring stellt, dann kämpfe ich auch gegen den“, sagte er noch, ehe er sich in die kalte Novembernacht verabschiedete. Man muss wohl befürchten, dass demnächst im „Jurassic Park“ das Telefon klingelt.