Hamburg. Schwergewichts-Boxprofi Manuel Charr über sein neues Leben nach dem Attentat und den Traum, Schmelings Nachfolger zu sein.

„Von der Straße zu den Sternen“, so lautet das Motto des Kampfes, mit dem sich Manuel Charr seinen Lebenstraum erfüllen will. An diesem Sonnabend (22 Uhr/Sky) fordert der 33 Jahre alte „Koloss von Köln“ in der König-Pilsener-Arena in Oberhausen den Russen Alexander Ustinow (40) heraus. Der Sieger ist regulärer Weltmeister des Verbands WBA. Charr, geboren als syrischer Staatsbürger Mahmoud Omeirat Charr im Libanon, kam als Bürgerkriegsflüchtling 1989 nach Deutschland und hat seit eineinhalb Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft. Siegt er, wäre er erster deutscher Schwergewichtsweltmeister seit Max Schmeling.

Herr Charr, vor einem halben Jahr waren Sie fast Sportinvalide, als eine angeborene Dysplasie, also eine Knorpelfehlbildung, in beiden Hüften festgestellt wurde. Nun kämpfen Sie am Sonnabend um die WM. Wie geht das?

Manuel Charr: Das geht, weil ich mein komplettes Leben wie eine Sanduhr umgedreht habe. Ich habe meine Ernährung umgestellt, Milchprodukte komplett verbannt, nehme nur noch wenige Kohlenhydrate zu mir, an zwei Tagen pro Woche esse ich nur Grünes. Und ich habe wie ein Verrückter gearbeitet, habe ein tolles Team aufgebaut und mit der Easy-Motion-Skin-Trainingsmethode meinen Körper wieder in Form gebracht.

Dennoch ist kaum vorstellbar, dass ein Schwergewichtler mit zwei künstlichen Hüften Weltmeister werden kann.

Das liegt vielleicht an Ihrer Vorstellungskraft. Als ich nach der Operation aufwachte und zum ersten Mal aufstehen sollte, wollten die mir einen Rollator geben. Ich bat darum, Krücken zu bekommen. ,Das geht auf keinen Fall!’, sagten die Ärzte und die Schwestern. Aber ich habe darauf bestanden, und es ging. Als nach zwei Wochen die Reha starten sollte, kamen die Physiotherapeuten und wollten mit mir bei A beginnen, aber ich war schon bei Z, weil ich im Bett wie verrückt geschuftet hatte. Es kommt also darauf an, was man sich vorstellen kann und was man bereit ist zu tun, damit es Realität wird.

Wie konnten Sie überhaupt so lange mit zwei kaputten Hüften Leistungssport betreiben?

Schmerzen in den Hüften hatte ich schon immer, vor allem bei Dehnübungen. Ich habe mir aber eingeredet, dass es normal ist, bei meinem Gewicht und der Muskelmasse etwas steif zu sein, und irgendwann ist das Schmerzempfinden darauf eingestellt. Deshalb wurde der Schaden auch nur durch Zufall entdeckt.

Wie das?

Ich war bei dem Kölner Sportmediziner Oliver Tobolski und fragte ihn, was er glaube, warum mir die Schlagkraft fehlt, um Gegner mit einem Treffer auszuknocken. Er bat mich, mich auf den Rücken zu legen, dann sollte ich meine Beine anheben. Das ging aber nicht, sie knickten sofort zur Seite weg. Da sagte er: ,Manuel, du musst sofort in die Röhre, ich habe einen Verdacht.’ Und tatsächlich war es Arthrose im Endstadium. Ich konnte das nicht fassen. Mein ganzes Boxerleben hatte ich mit Vollprofis gearbeitet, aber niemand hatte das bemerkt.

Hatten Sie keine Sorge, dass Sie nach einer solch schweren Operation nie wieder würden boxen können?

Doch, natürlich. Ich hätte ja auch bis nach der Karriere mit dem Eingriff warten können. Aber für mich war plötzlich klar: Die ganze Karriere über habe ich nur aus dem Oberkörper gekämpft, weil die Kraft aus den Beinen nicht übertragen werden konnte. Ich war wie ein Pfeil ohne Bogen. Deshalb habe ich mich entschieden, es sofort machen zu lassen. Und es gab nur einen Arzt, der den Mut hatte, beide Hüften gleichzeitig zu operieren: Professor Gerd Gruber in Heidelberg. Ihm bin ich zutiefst dankbar, ebenso wie meinem Manager Christian Jäger, der meine Entscheidung mitgetragen und an mich geglaubt hat. Ihm habe ich versprochen, stärker als zuvor zurückzukommen. Deshalb habe ich so hart geackert. Ich wusste, dass ich einen Quantensprung brauchen würde, um die menschliche Physik zu besiegen.

Nun war die Hüftoperation beileibe nicht der erste Rückschlag in Ihrem Leben. Vor zwei Jahren wurden Sie in einem Essener Imbiss von einem Amateurboxer, mit dem Sie zuvor einen Streit hatten, niedergeschossen.

Ach, die erste Kugel bekam ich schon als Kind im Bürgerkrieg ab, einen Streifschuss ins Bein. Mein Vater starb, als ich drei Jahre alt war. Ich habe viele Tote sehen müssen damals. Und nach der Flucht musste ich mich in Deutschland fast jeden Tag prügeln, um zu überleben. Als ich 16 war, arbeitete ich als Türsteher in Holland und bekam einen Messerstich in den Rücken. Und zu meiner Anfangszeit als Profiboxer saß ich mehrere Monate in Untersuchungshaft, weil ich bei einer Schlägerei anwesend war, bei der auch ein Mann niedergestochen wurde. Letztlich wurde ich freigesprochen. Aber ich habe viel mehr erlebt, als in ein Leben hineinpasst. Ich bin wie eine Katze, die sieben Leben hat. Fünf habe ich verbraucht, deshalb musste ich etwas ändern.

Tatsächlich haben Sie sich nach dem Bauchschuss in Essen komplett gewandelt. Manche tragen nach solchen Attacken noch mehr Hass und Rachsucht in sich. Sie vergaben dem Täter, der zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Wie ist Ihnen das gelungen?

Ich bin noch im Gerichtssaal zu ihm gegangen und habe ihm die Hand gegeben. Er muss das mit seinem Gott klären. Ich bin dem lieben Gott dankbar für jede Hürde, die er mir hinstellt, denn ich sehe alles, was passiert, als Herausforderung. Und auch als Chance, den Kampf anzunehmen, um allen Menschen zu beweisen: Glaubt an euch, haltet an euren Idealen fest, dann könnt ihr alles erreichen.

Sie waren nicht immer so demütig, früher galten Sie als Großmaul und als einer, mit dem man sich besser nicht anlegt. Warum der Wandel?

Natürlich war ich ein Großmaul. Aber ich hatte keine andere Wahl. Wenn ich nicht dieses Auftreten gehabt hätte, diese One-Man-Show als der große, böse Boxer, dann wäre ich heute niemals dort, wo ich bin. Ich hätte 2012 nie die WM-Chance gegen Vitali Klitschko bekommen. Ich hatte keine Förderer und musste mir alles selbst erkämpfen. Heute habe ich das beste Team der Welt und keine Sorgen mehr, kann mich auf meinen Sport konzentrieren. Und ich habe verstanden, dass alles im Leben zu einem zurückkommt, Gutes und Böses. Ich habe mich nach dem Attentat zurückgezogen und eine schonungslose Bilanz meines Lebens aufgestellt. Dann habe ich beschlossen, mich von allem Bösen zu trennen. Seitdem bin ich glücklich.

Sie haben sich sogar bei vielen Menschen, mit denen Sie Ärger hatten, persönlich entschuldigt, sind beispielsweise zum Rap-Star Bushido nach Berlin gereist, um Ihre Fehde zu klären. Was hatten Sie dabei für Erlebnisse, wie ist das angekommen bei den anderen starken Alphatieren?

Die sind begeistert. Es ist doch eine Stärke, Fehler eingestehen zu können. Und ich bin fest überzeugt davon, dass ich nur deshalb nun die Chance habe, um die WM zu kämpfen.

Das Boxen, haben Sie gesagt, ist ein schmutziges Geschäft voll von Haien, die andere fressen wollen. Warum haben Sie sich davon nicht auch getrennt?

Weil ich Weltmeister werden muss, um meine Träume zu erreichen. Sehen Sie: Mein Wunsch ist es, den Menschen mit Liebe und Freundlichkeit zu begegnen und für den Frieden zu kämpfen. Liebe ist das A und O, sie ist die stärkste Macht der Welt. Für den Weltverband WBC bin ich schon Friedensbotschafter. Wenn ich Weltmeister werde, möchte ich einen Boxstall eröffnen, in dem ich Talente fördere, ohne sie auszunutzen. Ich möchte in Krisenländer reisen, dort kämpfen und mir all die Flaggen der Länder, die ich bereisen darf, auf die Kampfhose nähen. Ich möchte der erste Weltboxer sein. Aber das geht nur, wenn ich Weltmeister werde.

Können Sie verstehen, dass es Kritik daran gibt, dass die WBA einen Kampf zwischen zwei Boxern, die seit Jahren keine Weltklassegegner mehr besiegt haben, als WM deklariert?

Fragen, die die Weltverbände betreffen, müssen diese beantworten. Das kann ich mir nicht anmaßen. Die WBA-WM ist vakant, seit Ruslan Chagaev als amtierender Weltmeister seine Karriere beendet hat. Dann gab es ein paar Versuche, WM-Kämpfe anzusetzen, die aber immer wieder geplatzt sind. Leider haben wir im Boxen ein großes Dopingproblem, zum Glück sind die Testverfahren inzwischen aber so gut, dass diejenigen, die betrügen wollen, auch gefunden werden. Deswegen wurden zum Beispiel Shannon Briggs und Luis Ortiz gesperrt, die in der Weltrangliste vor mir standen. So bin ich aufgerückt. Ich bin froh und stolz, dass ich jetzt die Chance habe, Weltmeister zu werden. Dass es Leute gibt, denen das nicht gefällt und die es schlecht reden wollen, damit muss ich leben. Aber wie heißt es so schön: Mitleid bekommt man geschenkt, Neid muss man sich erarbeiten.

Der erste deutsche Schwergewichtschampion seit Max Schmeling zu werden, bedeutet Ihnen das etwas?

Was für eine Frage! Das wäre das Größte! Dieses Land hat mir alles gegeben, ein Dach über dem Kopf, Essen, Arbeit, eine Perspektive, auch wenn alles hart erkämpft werden musste. Deutschland als ein Zeichen meiner Dankbarkeit diesen Titel geben zu können, das ist mein Wunsch. Am 25. November wird es so weit sein. Alles, was mir im Leben passiert ist, habe ich vorausgesehen. Ich bin ein Visionär! Das Leben hat mich lange genug geschlagen. In Oberhausen schlage ich nun zurück.

Das klingt doch wieder nach dem alten Charr. Wie schwer ist es Ihnen gefallen, das alte Leben hinter sich zu lassen?

Gar nicht schwer, weil ich weiß, dass es richtig ist. Ich habe Fehler gemacht, dafür habe ich bezahlt. Heute lebe ich viel glücklicher, weil ich nicht mehr zurückschaue. Die Narben sind noch da, aber sie schmerzen nicht mehr. Ich weiß, dass es vielen Menschen viel schlechter geht als mir. Wenn ich denen mit meinem Tun nun etwas geben kann, dann habe ich etwas Gutes geschafft, und das tue ich aus tiefer Überzeugung.

Sie haben tatsächlich vieles von dem erreicht, was Ihnen kaum jemand zugetraut hätte. Wenn Sie tatsächlich Weltmeister werden, was soll dann noch kommen in Ihrem Leben?

Dann mache ich noch zwei, drei große Kämpfe und kümmere mich anschließend um meinen nächsten Traum, Schauspieler in Hollywood zu werden. Und irgendwann möchte ich als Friedensbotschafter für Deutschland in die Politik gehen.

Was antworten Sie denen, die Sie angesichts solcher Aussagen für einen Spinner halten?

Davon gibt es nicht mehr viele, denn alles, was ich gesagt habe, ist eingetreten oder wird noch eintreten. Aber wenn Sie jemanden finden, der das sagt, dann nehme ich denjenigen in den Arm und sage: ,Wir sehen uns in der Zukunft!’