London. Die Dortmunderin spricht im Interview über ihre sprunghaft gestiegene Popularität, über Usain Bolt und Pinkeln vor Publikum.

Nachdem Gina Lückenkemper von der LG Olympia Dortmund bei der Leichtathletik-WM im Vorlauf über 100 Meter mit 10,95 Sekunden als erste Deutsche seit 26 Jahren unter elf Sekunden gelaufen war, will sie mit der deutschen Sprintstaffel am Sonnabendd eine Medaille gewinnen. Die 20-Jährige spricht über ihre sprunghaft gestiegene Popularität, über Usain Bolt und Pinkeln vor Publikum.

Hamburrger Abendblatt: Frau Lückenkemper, nachdem Sie zwei Tage darüber geschlafen haben, wurmt es Sie jetzt, dass Sie im Halbfinale ausgeschieden sind? Im Finale hätten Sie mit Ihrer Zeit aus dem Vorlauf Bronze gewonnen.

Gina Lückenkemper: Es ist Schwachsinn, die beiden Läufe zu vergleichen. An einen Vorlauf kann man lockerer herangehen, und die Bedingungen waren völlig unterschiedlich. Beim Halbfinale war es am Abend ganz schön kalt. Ich musste in meinem knappen Outfit lange warten und habe im kalten Wind gefroren. Das macht einen nicht locker. Und eine 10,95 läuft man nicht jeden Tag. Ich bin ja noch jung. Ich werde noch in ein Finale kommen. Da bin ich mir sicher.

Gewinnen Sie jetzt dafür in der Staffel die Medaille?

Wir sind ein Medaillenkandidat, weil wir ein wirklich gutes Team auf der Bahn haben. Wenn wir keine Fehler machen, werden wir sehr schnell sein. Wir denken aber nicht ständig an eine Medaille. Wenn man sich mit so etwas zu sehr beschäftigt, dann wird das nichts. Mit einem vernünftigen Rennen ist aber richtig viel drin für uns.

Es gibt ein Klischee, dass Frauen im Sport oft zickig sind. Warum ist das in der deutschen Staffel nicht so?

Das ist vom Typ abhängig. Wir sind alle umgängliche Typen. Keiner verhält sich wie die Axt im Walde. Wir machen viel zusammen, gehen aber auch mal unsere eigenen Wege. Da ist niemand dem anderen böse. Wir sind wie eine kleine Staffel-Familie. Die Mädels sind alle ins Stadion gefahren, um meine Läufe zu sehen.

Sind Sie Freundinnen?

Nee, gar nicht (lacht). Ja, wir sind Freundinnen, sogar ziemlich beste Freundinnen. Rebekka Haase plant sogar Ihren Urlaub bei mir in Soest.

Aber Sie sind der Star. Wie empfinden die anderen das?

Ich fühle mich nicht als Star. Und ich führe mich auch nicht so auf. Dadurch, dass ich nicht rumrenne und sage, ätsch, ihr könnt mich mal alle, sehen die anderen mich nicht als etwas Besonderes an.

Es gab kritische Stimmen, dass Sie am Abend vor dem Halbfinale noch ins „Aktuelle Sportstudio“ gegangen sind.

Ich bin die letzte, die das stresst. Ich habe daran Spaß. Ich setze mich da hin und rede einfach eine Runde los.

Sind Sie die Anführerin der Staffel?

Nein. Wir haben keine. Verena Sailer ist die Anführerin bis zu ihrem Rücktritt gewesen, weil sie wegen ihrer Erfahrung so etwas wie die Mutti war. Wir sind jetzt ein bunt gemischter Haufen, der einfach viel Spaß zusammen hat.

Das Interesse an Ihnen ist groß. Können Sie in eine Führungsrolle in der deutschen Leichtathletik herein wachsen?

Sprint ist medienwirksam, das weiß ich. Wenn es so kommt, dann ist es so.

Wie hat der Lauf unter elf Sekunden das Interesse an Ihrer Person verändert?

Das Medieninteresse ist krass gestiegen. Meine Follower-Zahl bei Instagram ist explodiert. Von 47.000 auf 57..000. Nicht nur aus Deutschland, aus Italien, Finnland, Chile oder Spanien. Ich habe aber auch sehr viele Interviews nach dem Lauf gegeben. Vom spanischen Fernsehen bis zum finnischen Radio.

Genießen Sie diese Rolle?

Ja. Wie gesagt, ich rede unfassbar gerne. Auch auf Englisch.

Können Sie diese neue Popularität in Geld ummünzen?

Ich habe keinen Manager. Ich mache das noch selbst. Es wird sich zeigen, ob wir uns nach der WM für das Marketing Hilfe dazuholen. Aber damit beschäftige ich mich hier nicht. Ich bin hier bei einer WM. Das lenkt ab, darauf habe ich keinen Bock.

Sind Sie sich bewusst, dass auch Ihr Privatleben demnächst von Interesse ist? Wenn Sie beispielsweise einen neuen Freund haben, wird das nicht geheim bleiben.

Ja. Das Interesse wird größer sein. Aber ich kann es noch nicht einschätzen. Ich wundere mich ja selbst noch. Ich steige mit den Leichtathletik-Größen dieser Welt aus dem Bus und Leute kommen zu mir, um ein Autogramm auf mitgebrachten Bildern von mir zu bekommen. Wahsinn!

Die WM ist die große Abschiedsshow des Usain Bolt. Wie haben Sie das Spektakel erlebt?

Ich war nicht im Stadion, aber es war beeindruckend. Ich finde es sogar gut, dass er hier mal nicht gewonnen hat. Dritter zu werden, ist immer noch eine starke Leistung. Die Niederlage macht ihn menschlicher und noch sympathischer, als er es ohnehin schon war.

Unter elf Sekunden ist eine deutsche Sprinterin zuletzt vor 26 Jahren gelaufen. Alle vor Ihnen platzierten Läuferinnen der ewigen deutschen Bestenliste kamen aus der ehemaligen DDR. Nachweislich gehörte Doping dort zum System. Fühlen Sie sich als deutsche Rekordlerin?

Ich würde mich so fühlen, wenn man irgendwann mal offiziell diese Liste bereinigt. Dass überhaupt Läuferinnen auf der Liste stehen, die gedopt haben, finde ich ein No-Go. Andere Athleten wie ich reißen sich den Arsch auf, diese Zeiten sind echt.

Aber Sie müssen damit rechnen, dass auch an Ihren Zeiten gezweifelt wird.

Ich weiß, dass ich sauber bin, und habe sehr, sehr viele Kontrollen gehabt. Ich bin im Trainingslager vor der WM getestet worden. Ich war hier in London keine zwei Stunden im Hotel, da standen die Kontrolleure wieder vor der Tür. Ich habe echt Schiss vor Nadeln, aber ich dulde es, dass mir Blut abgenommen wird, weil ich einen sauberen Sport haben will. Ich nehme dafür jede Menge Unannehmlichkeiten in Kauf. Es ist nicht schön, wenn Leute klingeln, die du vorher noch nie gesehen hast, und dir dann beim Pinkeln zuschauen. Pinkeln vor Publikum nenne ich es. Dass regelmäßig Sportler überführt werden, zeigt jedoch, dass unser Kontrollsystem funktioniert.

In diesem Jahr haben Sie auch wegen Trainingsrückstands mehr Gewicht auf die 100 Meter gelegt. Wie wird das in Zukunft sein?

In diesem Jahr werde ich keine 200 Meter mehr laufen, aber ich freue mich jetzt schon auf das nächste Jahr. Die 200 Meter sind meine Lieblingsstrecke. Ich laufe einfach gern durch die Kurve. Wer weiß, was auf den 200 Metern noch drin ist.

Eine Traummarke der Sprinterinnen, unter elf Sekunden über 100 Meter zu rennen, haben Sie erreicht. Es gibt noch eine.

Sie meinen, die 21 vor das Komma zu setzen? Ja, das ist noch schwieriger. Die 21 ist eine geile Zahl, ich werde im November 21 Jahre alt. Ich habe über 200 Meter eine Zeit von 22,67 Sekunden stehen. Im nächsten Jahr werde ich schneller sein, aber nicht mit einer 21 vor dem Komma. Das ist noch ein sehr weiter Weg.