Hamburg. Den knapp verpassten Etappensieg hat der Buchholzer verdaut. Seine eigenen Erwartungen hat er übertroffen.

Die Nacht danach war furchtbar. Nikias Arndt lag in seinem Hotelbett, aber an Schlaf war nicht zu denken. Immer wieder fuhr er sie im Geiste noch einmal, die 19. Etappe der Tour de France. Versuchte zu ergründen, an welcher Stelle der mehr als 190 Kilometer, die er mit einer 20-köpfigen Ausreißergruppe in Richtung Salon-de-Provence gerast war, er etwas anders hätte machen können. Das Ergebnis aber änderte sich nie: Immer wieder rollte der Radprofi aus Buchholz in der Nordheide als Zweiter über die Ziellinie, geschlagen vom Norweger Edvald Boasson Hagen, dem er zwei Kilometer vor dem Ziel bei dessen Schlussattacke nicht mehr hatte folgen können. „Die Mischung aus Erschöpfung und Enttäuschung hat mich fertiggemacht“, sagt der 25-Jährige.

Neun Tage ist seine erste Frankreich-Rundfahrt nun Geschichte. Doch erst jetzt, da er in seiner Wahlheimat Köln ein wenig zur Ruhe kommt, hat der Allrounder vom deutsch-niederländischen Team Sunweb den nötigen Abstand gefunden, um seine Leistung zu analysieren. Um die physische Belastung nicht schlagartig herunterzufahren, was in dieser Phase der Saison kontraproduktiv gewesen wäre, musste Arndt in der vergangenen Woche noch drei Eintagesrennen bestreiten, am Mittwoch und Freitag in Deutschland, am Sonntag in London.

180 Kilometer als „aktive Erholung“

„Mental war ich müde und hatte ehrlich gesagt keine Lust. Aber das waren nur 180 Kilometer“, sagt er beiläufig, und genauso meint er es auch. Wer innerhalb von drei Wochen 3540 Kilometer durch Frankreich strampelt und sich dabei über tückische Gipfelpässe in den Alpen und Pyrenäen quält, für den sind 180 Kilometer das, was Nikias Arndt mit dem Begriff „aktive Erholung“ umschreibt.

Seit er im Sportinternat in Cottbus die Zweikämpfe zwischen Jan Ullrich und Lance Armstrong am Fernseher miterleben durfte, hatte Arndt davon geträumt, selbst einmal die „Große Schleife“ absolvieren zu dürfen. Und tatsächlich sei vieles genauso gewesen, wie er es sich ausgemalt hatte. „Es war unglaublich hart, sehr stressig, aber alles in allem ein absolut intensives Erlebnis“, sagt er, „die Tour ist definitiv das größte Ereignis, das ein Radprofi erleben kann.“ Das mag keine überraschende Erkenntnis sein; Arndt jedoch begründet sie vor allem mit der für ihn ungewohnten Medienpräsenz und der Zuneigung der Fans, die er in dieser Form bislang nirgendwo gespürt habe.

Vor allem der Start in Düsseldorf werde ihm ewig in Erinnerung bleiben. Deutschland ist als Nation der härtesten Dopingkritiker bekannt, viele Jahre lang waren die Fans den Rennen ferngeblieben oder hatten die Sportler mit Argwohn begleitet. Nun, beim Auftaktzeitfahren in der Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens und auf der zweiten Etappe von Düsseldorf nach Lüttich, „sind wir überall gefeiert worden. Diese Atmosphäre hat vor allem uns deutschen Fahrern unglaublich gutgetan. Mir hat sie Kraft für das ganze Rennen gegeben“, sagt er.

Dass das Thema Doping auch in diesem Jahr allgegenwärtig war, dafür hatte der Portugiese André Cardoso gesorgt, der drei Tage vor dem Start positiv auf das Wachstumshormon Erythropoetin, besser bekannt als Epo, getestet worden war. Arndt hatte sich als Speerspitze der Kritiker hervorgetan und dem Portugiesen Dummheit vorgeworfen. Sein Ärger ist auch vier Wochen später noch nicht verflogen. „Jeder, der heute noch dopt, spielt nicht nur mit seiner Gesundheit, sondern mit den Jobs eines gesamten Teams“, sagt er.

Ex­trem viele Kontrollen

Natürlich versteht Nikias Arndt, dass angesichts der übermenschlichen Leistungen, die eine Tour-Teilnahme erfordert, auch heute noch viele Beobachter den Radsport kritisch beäugen. „Aber wir können nicht mehr tun, als völlige Transparenz zu bieten. Wir haben ex­trem viele Kontrollen und wissen alle, dass wir mit einem positiven Fall die Existenz des Teams gefährden.“ Schwarze Schafe werde es immer geben, und damit auch die Kritiker. „Aber der Radsport ist nicht mehr anders als andere Sportarten auch, und ich habe das Gefühl, dass das wieder mehr anerkannt wird.“

Seine eigene körperliche Frische, die ihm nicht nur beinahe den erträumten Etappensieg einbrachte, sondern auch viel Sonderlob der Teamführung für seine Unterstützung bei den Etappensiegen des australischen Sprintstars Michael Matthews und des französischen Bergspezialisten Warren Barguil, führt Arndt auf sein Grundlagentraining zurück. „Ich hatte keinen Tag, an dem ich körperlich geschwächelt habe. Mental war es anstrengender“, sagt er, „und auch wenn es gemein klingt, hat mich die Schwäche anderer, die sonst auf meinem Level fahren, stärker gemacht.“ Mit Rang 84 in der Gesamtwertung und mithin als viertbester Deutscher habe er seine eigenen Erwartungen übertroffen.

Anfang einer dauerhaften Beziehung

Kein Wunder also, dass seine Tour-Premiere nur der Anfang einer dauerhaften Beziehung sein soll. Ob er schon 2018 wieder beim wichtigsten Rennen der Saison an den Start gehen werde, will Arndt, der seinen Vertrag beim Sunweb-Team noch während der Tour bis 2020 verlängert hatte, am Saisonende in Absprache mit der Teamleitung entscheiden. „Ich habe auch noch andere Ziele, und da muss man schauen, wie die Tour in die Saisonplanung passt“, sagt er, „aber solange mir der Tour-Etappensieg fehlt, werde ich es immer wieder versuchen.“

Mit seinem zweiten Rang auf dem 19. Teilstück hat Nikias Arndt längst seinen Frieden gemacht. „Natürlich ist der Moment, in dem man geschlagen ins Ziel fährt, ganz bitter. Man fällt in ein Loch, weil man nie weiß, wann so eine Chance wiederkommt“, sagt er. Mittlerweile jedoch könne er stolz auf das Erreichte sein. „Ich habe an dem Tag ganz viele Dinge richtig gemacht, und darauf lässt sich aufbauen.“ Vielleicht schon am 20. August, wenn bei seinem Heimrennen, den Cyclassics in Hamburg, der nächste Einsatz ansteht. Mit etwas mehr Fortune als in der Provence könnte die Nacht danach eine großartige werden.