Winsen. Der deutsche Profi Marcel Siem will sich zurück in die Weltspitze kämpfen – und einen Platz bauen. Das Abendblatt traf ihn in Winsen.

Marcel Siem war sauer auf sich. Um seiner Ehefrau Laura, die erneut als Caddie fungierte, nicht noch mehr Gewicht aufzubürden, hatte der 37-Jährige auf eine Regenjacke und -hose verzichtet. Ein Fehler. Im Schlussdrittel seiner zweiten Runde bei den Porsche European Open setzte heftiger Platzregen den Nord Course unter Wasser. Weil sein Ball während einer Annäherung von einer Böe erwischt wurde, kassierte er ein Bogey.

Mit einer 71-er Runde und einem Gesamtergebnis von vier unter Par liegt der Ratinger dennoch recht gut im Rennen vor den abschließenden Runden. Vor allem aber dürfte er aufatmen, bei solch einem Turnier ohne Probleme den Cut (alle Spieler schlaggleich mit Platz 65 von 156 kommen weiter) überstanden zu haben. Schließlich wurde es langsam eng mit der Tourkarte für 2018.

Als das Turnier später sogar für Stunden unterbrochen werden musste, dürfte er im Nachhinein sogar noch zufriedener mit dem Verlauf seiner Runde gewesen sein. Für das Abendblatt erklärte Siem vor dem Finalwochenende, wie sein Golf-Kosmos funktioniert. Siem über ...

... seinen Privatcaddie: „Laura, die mich in Winsen als Caddie begleitet, spielt selbst kein Golf. So kehre ich hier zurück zu den Wurzeln, muss alles selber machen, den Wind beachten, den richtigen Schläger auswählen und kann mich nicht um die Verantwortung drücken. Mit einem Caddie ist das so eine Sache. Man wird faul, verlässt sich auf das Urteil anderer.“

... seine ständigen Begleiter: „Normalerweise reisen mein Caddie, ein Physiotherapeut und mein Manager mit. In Deutschland sind meine Frau und meine beiden drei- und sechsjährigen Töchter dabei. Ab und zu stößt auch mein Trainer Günter Kessler dazu.

... seine Nervosität beim ersten Abschlag: „Nervös bin ich nicht mehr. Was ich verspüre, ist ein gewisser Druck, mir schnellstmöglich die Qualifikation für die European Tour im kommenden Jahr zu sichern.“

... seinen Aberglauben: „Eigentlich bin ich nicht abergläubisch. Aber wenn ich einen Marker in der Tasche finde, mit dem ich in der Vorwoche nicht so gut geputtet habe, nehme ich den nicht noch mal.“

... seinen ganz normalen Trainingstag: „Mein Tag beginnt mit einer Stunde im Gym. Danach stehe ich drei Stunden auf der Driving Range und übe je eine Stunde Chippen und Putten. Meistens gehe ich noch neun oder auch mal 18 Loch. Über den Tag verteilt schlage ich rund 400 bis 500 Bälle, in Ausnahmen können es auch bis zu 1000 Bälle sein.“

... seine Konzentrations-Routine: „ Ich visualisiere sehr viel, auch am Abend, bevor ich ins Bett gehe und früh am Morgen noch einmal. Als Hilfe benutze ich ein kleines Video und ein Audio, das dauert zehn Minuten. Um runterzukommen und besser zu schlafen, mache ich ein paar Atemübungen. Auch auf dem Platz benutze ich zwei verschiedene Atemtechniken.“

... seine Emotionalität: „Ich neige zu Extremen, nach oben wie nach unten. Mentalberater raten ja dazu, keine Emotionen zu zeigen, um den Puls stabil zu halten. Aber ich bin an einem Punkt, wo ich mir sage: Was soll’s, warum soll ich mich verbiegen? Und nebenbei: Von der European Tour ist es ja geradezu gewünscht, mehr auf die Besucher zuzugehen, den Sport volksnaher zu machen.“

... seine Motivation nach 17 Jahren als Profi: „Das Masters ist das einzige Major-Turnier, das mir noch fehlt. Das will ich auf jeden Fall spielen. Auch der Ryder Cup wäre ein Traum. Im nächsten Jahr wird er in Frankreich auf einem Platz ausgetragen, auf dem ich schon gewonnen habe. Die Teilnahme wäre ein absoluter Knaller.

... den Verjüngungsprozess beim Profigolf: „Als ich auf die Tour kam, war man als Profi zwischen 35 und 45 Jahren auf dem Höhepunkt. Das hat sich innerhalb von zehn Jahren krass verändert. Die Jungs sind jetzt mit 18 auf der Tour, spielen mit 24 Ryder Cup. Einige meiner Freunde haben ihre Karriere beendet. Manch einer sagt: ,Der Siem ist schon alt.’ Aber ich fühle mich überhaupt nicht alt.“

... seine Karriereplanung: „Als es richtig gut lief bei mir (Siem stand knapp über den Top 50, heute liegt er in der Weltrangliste auf Position 409, d. Red.), habe ich mir vorgestellt, bis 60, 70 zu spielen. Wenn man aber mit Backpfeifen im Gepäck nach Hause fliegt, fragt man sich schon mal: Wofür tut man sich das an? Aber Golf ist einfach eine geile Sportart. Bleibe ich gesund, spiele ich, solange es geht. Ich möchte einfach nur wieder ganz vorne mitspielen. Ich bin ein Adrenalin-Junkie und brauche das Gefühl, alle geschlagen zu haben und den Pokal nach oben zu recken.“

... seine Verletzungsprobleme: „Ich hatte früher keine Probleme. Die Verletzungen kamen erst nach einer Technikumstellung. Schon kurz, nachdem ich meinen Schwung verändert hatte, merkte ich was, habe es aber damals durchgezogen. Ein Fehler! Man sollte mehr auf sein Gefühl und die Muskulatur hören, nicht so krass umstellen.“

... seine bevorzugte Form von Entspannung: „Ich spiele für mein Leben gerne Tischtennis – und ich angele seit meine Jugendzeit. Meine Eltern betrieben eine Gastronomie in Much in Nordrhein-Westfalen, in der Nähe einer Burg befand sich ein Weiher. Ich habe mir immer heimlich aus der Küche Käse geholt und als Köder für Karpfen benutzt. Hat super funktioniert. Was ich nicht wusste: Das war Chaumes, teurer französischer Käse. Wenn ich in Florida trainiere, angele ich jeden Tag.“

... seine Liebe zu Autos: „Das Geräusch meines Autos (ein Mercedes E63) ist einfach geil ... Ich bin aber kein aggressiver Fahrer und habe auch keine Punkte in Flensburg. Mit den Kindern im Auto fahre ich sowieso zurückhaltender. Aber ich war auch schon auf der Nordschleife des Nürburgrings unterwegs. Wenn ich kann, gebe ich alles.“

... seine Heimat: „Ich wohne zwar näher an Düsseldorf, aber mein Herz schlägt für Köln und den FC. Die Art und Weise der Kölner liegt mir mehr.“

... seine Ziele nach der Karriere: „Ich möchte auf jeden Fall im Golfbereich bleiben. Mein großes Ziel ist es, gemeinsam mit Investoren einen Golfplatz zu bauen, der sich als nationales Nachwuchsleistungszentrum eignet. Jungen Profis eine Heimat geben zu können, fände ich unheimlich cool.“

... seine Hoffnungen mit Golf in Deutschland: „Den Ryder Cup (Kontinentalvergleich zwischen den USA und Europa) nach Deutschland zu holen, wäre ein Traum. Das sind pure Emotionen, die durchaus einen Golfhype initiieren könnten. Aber die Basis müsste folgten. Insgesamt fände ich es wichtig, alles rund um Golf etwas lockerer zu machen. Neun-Loch-Turniere nach der Arbeit sind ein gutes Instrument dabei. Oder öffentliche Plätze mit einer Pommesbude als Clubhaus, aber einer qualitativ guten Driving Range. Golf ist cool, auch für Kinder. Sie sind so an der frischen Luft und können nicht irgendwo in der Stadt in schlechte Gesellschaft geraten.“

... seinen Tipp an Amateurspieler: „Chippen und Putten üben! Wer das kurze Spiel beherrscht, kann unheimlich viel Selbstvertrauen tanken, weil ich weiß: Auch wenn ich einen Drive in die Wicken haue, habe ich noch eine Chance auf ein Par oder ein Bogey, wenn ich nach dem zweiten Schlag rund ums Grüne liege. So habe ich auch bei Driver- oder Eisenschlägen weniger Druck.