Wetzlar . Gegen den Engländer Paul Smith verteidigte Zeuge seinen WM-Titel im Supermittelgewicht souverän und bleibt damit Weltmeister.

Der Sonntagmorgen hatte gerade begonnen, als Tyron Zeuge genug hatte von all den Lobpreisungen. „Nicht so viel loben, sonst drehe ich noch ab“, sagte der 25-Jährige. Selbstschutz in doppelter Hinsicht war das, denn neben der Sorge, das vorangegangene Geschehen möglicherweise falsch einzuordnen, war der Berliner WBA-Weltmeister im Supermittelgewicht auch von dem Drang getrieben, noch ein Bier trinken und dann schlafen gehen zu wollen. Außerdem ist Zeuge kein Mann großer Worte. Er lässt lieber seine Fäuste sprechen, und das tat er in der Rittal-Arena in derart eindrucksvoller Manier, dass um ihn herum fast nur glückliche Gesichter zu sehen waren.

Die Ausnahmen von dieser Regel gehörten den Gästen aus England, allen voran Paul Smith. Der 34-Jährige aus Liverpool hatte Deutschlands einzig verbliebenem Profiboxchampion dessen Titel entreißen wollen, er hatte angekündigt, alles zu geben, um neunter aktueller britischer Weltmeister zu werden. Und dann war er über zwölf Runden so chancenlos gewesen, wie es das einstimmige Punkturteil (dreimal 119:108) aussagte gegen einen Tyron Zeuge, dem viele Experten am Ring bescheinigten, im 22. Profikampf seiner Karriere die beste Leistung abgerufen zu haben. „Heute waren Können, Wille und die Jugend entscheidend. Wir haben die neue Generation des Supermittelgewichts gesehen. Deutschland hat mit Zeuge einen sehr interessanten Mann, der eine große Zukunft haben wird“, sagte Smiths Promoter Eddie Hearn.

Coach lobt "Klasseleistung" seines Schützlings

Dessen Schützling war wahrlich kein handverlesenes Kanonenfutter. Smith, dessen drei Brüder Liam, Stephen und Callum ebenfalls erfolgreiche Profiboxer sind und die zu Ehren ihrer autistischen Schwester Holly mit dem Wort Autism auf ihren Kampfhosen auf die Entwicklungsstörung aufmerksam machen wollen, hat mit den Größen der Gewichtsklasse bis 76,2 Kilogramm im Ring gestanden. Zwar verlor er gegen seine Landsleute George Groves und James De Gale, den US-Amerikaner Andre Ward und sogar zweimal gegen Zeuges Sauerland-Stallkollegen Arthur Abraham. Aber nie sah er so alt aus wie am Sonnabend in Wetzlar gegen einen Tyron Zeuge, der mit flinker Beinarbeit brillierte, sehr variabel schlug und von der ersten bis zur letzten Sekunde die von seinem Trainer Jürgen Brähmer verordnete Marschroute einhielt.

„Es war eine Klasseleistung. Tyron hat super variiert, war sehr stabil und hat gezeigt, dass er zwölf Runden professionell runterboxen kann“, sagte der Coach, der sich ebenfalls ein großes Lob verdient hatte. Wie er seinen Schützling mit wenigen, dafür extrem pointierten und an den passenden Stellen gesetzten Anweisungen dirigierte, das hatte Stil und Klasse. Es scheint, als hätten sich in Brähmer und Zeuge zwei gefunden, die zusammengehören – auch wenn Zeuge im Spaß unkte, der Trainer werde „schon irgendwas zu meckern finden“.

Zuschauer feiern Zeuge frenetisch

Natürlich könnte man die Situationen in den Runden drei, vier und elf anführen, in denen sich Zeuge zu offen in den Schlagabtausch stürzte und prompt unnötige Treffer einfing. Aber dass ein 25-Jähriger unter dem Druck, den Status als letzter deutscher Champion verteidigen zu müssen, noch bisweilen zu von Unerfahrenheit bedingten Aussetzern neigt, sei verziehen. Die boxerischen Fertigkeiten jedoch, die er mitbringt, sind eine Augenweide, was sich auch in den Reaktionen der Zuschauer spiegelte. Knapp 3000 waren lediglich gekommen, und so verhalten, wie sie beim Einmarsch der Boxer applaudiert hatten, umso enthusiastischer wurden sie mit fortschreitender Kampfdauer. Mehrfach erhielt Zeuge Szenenapplaus, nach der Urteilsverkündung wurde er frenetisch bejubelt.

Es liegt in der Natur des Leistungssports, dass Erfolge kaum genossen werden können, weil gleich schon der nächste Schritt diskutiert wird. Auch wenn Zeuge angab, an seinen nächsten Kampf noch keinen Gedanken zu verschwenden, schwirrte der Name Isaac Ekpo durch die Rittal-Arena. Gegen den Nigerianer hatte der Berliner Ende März trotz seines Abbruchsiegs in Runde fünf schlecht ausgesehen. Der Weltverband WBA hat einen Rückkampf angeordnet, den Brähmer auch gern annehmen würde: „Wir wollen unbedingt zeigen, dass der erste Kampf ein Ausrutscher war. Wenn Tyron sich weiter so entwickelt, dann wird Ekpo sich umgucken!“

Diskutiert wurde auch, ob Zeuge als WBA-Champion nicht am im September startenden, neuen Champions-League-Format teilnehmen sollte. In zwei Gewichtsklassen, Supermittel und Cruiser, ermitteln je acht Boxer ihre Besten, die mit der Muhammad-Ali-Trophy ausgezeichnet werden. Am 8. Juli werden in Monaco die 16 Kandidaten offiziell gekürt. Da die Champions League mit Viertelfinale, Halbfinale und Finale innerhalb eines Jahres durchgezogen werden soll, müssen zudem Ersatzkämpfer benannt werden, die sich dauerhaft fit halten, um im Verletzungsfall einspringen zu können.

Promoter Kalle Sauerland nannte mit Zeuge, Abraham und Vincent Feigenbutz drei Boxer aus seinem Stall als mögliche Kandidaten, doch das Planspiel sieht etwas anderes vor. So soll Jürgen Brähmer, der seine aktive Karriere trotz des Trainerjobs noch nicht aufgegeben hat, vom Halbschwergewicht eine Klasse herabsteigen und im Herbst ins Turnier starten. Zeuge soll – möglicherweise im Rahmenprogramm eines Viertelfinals – gegen Ekpo boxen und sich als Ersatzkämpfer bereithalten für den Fall, dass einer der acht Nominierten ausfällt. Wenn er die richtigen Schlüsse aus der Gala von Wetzlar zieht und nicht durchdreht, gibt es keinen Zweifel daran, dass er bereit wäre für richtig große Aufgaben.