Die frühere Weltklasse-Leichtathletin arbeitet inzwischen in einem Neubrandenburger Hospiz. Im Abendblatt spricht sie darüber.

Die Sonne brennt an diesem Maidonnerstag so unerbittlich, dass Katrin Zimmermann den roten Sonnenschirm auf ihrem Balkon aufgespannt hat, um draußen sitzen zu können. Dem Besucher überlässt sie den gemütlichen Ledersessel und streckt sich selbst auf einem kleinen Hocker aus. Zweimal nur wird die 47-Jährige, die unter ihrem Geburtsnamen Katrin Krabbe 1991 Welt-Leichtathletin und zweifache Sprintweltmeisterin war, während des gut zweistündigen Gesprächs aufstehen. Einmal, um Nachschub vom Zitronenwasser zu besorgen, das die Hitze lindert; ein weiteres Mal, um ein paar Bücher zu holen, die sie auf ihrem Lebensweg inspiriert haben.

Man könnte mit der Mutter zweier Söhne (18 und 21) über so viele Ereignisse ihres bewegten Lebens sprechen. Über die Dopingaffäre, die ihre Leistungssportkarriere 1995 beendete; über die gewonnene Schadenersatzklage im Anschluss; über den Selbstmord ihres Mannes Michael Zimmermann vor zwei Jahren oder die neue Beziehung zu Handballmanager Bob Hanning, dem ehemaligen HSV-Trainer. Das Hauptthema aber ist ihr Engagement als Hospizhelferin beim Dreikönigsverein Neubrandenburg, das Katrin Zimmermann, im Hauptberuf Sachbearbeiterin in einem Autohaus, ehrenamtlich betreibt.

Frau Zimmermann, wenn Sie Menschen zum ersten Mal von Ihrem Ehrenamt erzählen, was ist dann die häufigste Reaktion?

Katrin Zimmermann: Nach der ersten Überraschung ist der am meisten gesagte Satz: „Ich könnte das nicht!“ Darauf antworte ich: „Musst du ja auch nicht.“ Niemand muss freiwillig in einem Hospiz arbeiten, es gibt so viele Dinge, für die es sich zu engagieren lohnt. Aber natürlich spüre ich bei vielen unterschwellig, dass der Tod in unserer Gesellschaft noch immer ein Tabuthema ist.

Versteht jemand wie Sie, der ständig mit dem Tod konfrontiert ist, noch, warum das für viele ein Tabu ist?

Doch, das verstehe ich. Die meisten haben ja keine Angst vor dem Tod an sich, sondern vor dem, was davor passiert. Vor Schmerzen oder anderen Dingen, die man nicht beeinflussen kann. Ich möchte aber festhalten, dass ich nicht ständig mit dem Tod konfrontiert bin, sondern vielmehr mit dem Leben, denn das, was ich bei allen, die ich begleitet habe, gespürt habe, ist, dass sie am Leben hängen. Und ich arbeite ja mit Lebenden, nicht mit Toten.

Was hat Sie dazu bewogen, Menschen auf deren letztem Weg zu begleiten?

Vor ungefähr zehn Jahren hatte ich eine tiefe Lebenskrise. Was ich damals tat, wie ich lebte, fühlte sich unaufrichtig an, unehrlich und unvollkommen. Irgendwann war da der Satz „So will ich nicht mehr leben“ in mir. Ich habe begonnen, mich mit Philosophie und Spiritualität auseinanderzusetzen. Ich habe viele Bücher gelesen, Seminare besucht. Und dann war ich vor gut zwei Jahren zufällig auf einem Vortrag, wo der Leiter des Hospizes sprach, in dem ich heute tätig bin. Er fand über die Arbeit, die dort geleistet wird, so wunderbar warme Worte, dass ich wusste: Das will ich machen.

Und dann sind Sie einfach hinmarschiert und haben angefangen?

Nein, ich habe erst einmal eine Nacht drüber geschlafen, am nächsten Morgen angerufen und einen Termin vereinbart. Zunächst kam ich in eine Gruppe mit Interessierten, die aber keine Ausbildung hatten, um herauszufinden, ob der Job etwas für mich wäre. Ich habe gespürt, dass ich etwas von dem vielen Guten, das ich erlebt habe, zurückgeben will. So habe ich eine zehnmonatige Ausbildung absolviert. Seit dem Abschluss darf ich Menschen, die gehen müssen, nicht nur im Hospiz, sondern auch in deren Zuhause begleiten. Das tue ich regelmäßig einmal pro Woche für mehrere Stunden.

Suchen Sie sich Ihre Kandidaten selber aus? Betreuen Sie mehrere Menschen zugleich oder immer nur einen bis zu dessen Tod?

Das Hospiz erhält Anfragen von Menschen, die in der letzten Phase, ob nun altersbedingt oder wegen einer schweren Krankheit, Begleitung wünschen. Oder von deren Angehörigen, die zu Hause pflegen und Entlastung brauchen. Es gibt Koordinatoren, die uns Ehrenamtliche alle kennen und einzuschätzen wissen, ob wir zu demjenigen passen könnten. Dann lernt man sich kennen und spürt, ob man einen Draht findet oder nicht. Ich begleite immer nur einen Menschen zur Zeit. Und wir reden nicht von Jahren der Begleitung, sondern von Wochen, bestenfalls Monaten.

Kann man in dieser Zeit eine persönliche Bindung aufbauen? Und ist das überhaupt erstrebenswert, oder ist es besser, nüchtern Abstand zu bewahren, um nicht selbst zu sehr zum Betroffenen zu werden?

Ich kenne niemanden, der so etwas rational angehen kann. Für mich kann ich sagen, dass ich das mit sehr viel Herz mache und zu jedem eine persönliche Beziehung aufbaue. Der Vorteil ist, dass ich als Außenstehende nicht den persönlichen Schmerz spüre, obwohl natürlich irgendwann der Punkt kommt, an dem einem der Mensch, den man begleitet, nicht mehr fremd ist. Man sieht den Schmerz, das Leid, auch bei den Angehörigen. Man sieht, wie sich der Mensch verändert, wie er immer schwächer wird. Ich sitze manchmal nur schweigend am Bett und gebe Angehörigen die Möglichkeit, etwas zu erledigen, mal Luft zu holen. Aber ebenso sitze ich mit Familien am Esstisch, nehme an ihrem Leben teil.

Wenn ein alter Mensch geht, ist das oftmals leichter zu ertragen, als wenn jemand stirbt, dessen Zeit man noch nicht als abgelaufen betrachtet. Wie geht es Ihnen damit?

Tatsächlich war die Frau, die ich zuletzt begleitet habe, jünger als ich. Sie hatte einen Hirntumor. Da ist sehr, sehr viel Mitgefühl dabei, vor allem auch für die Familie, die den Mut und die Kraft hatte, sie zu Hause zu pflegen. Aber ich habe auch gespürt, mit wie viel Demut und Dankbarkeit die Angehörigen reagiert haben. Das hat mir geholfen. Grundsätzlich ist es so, dass man das Gefühl hat, dass alte Menschen mit ihrem Leben mehr abgeschlossen haben. Die sind oft tatsächlich des Lebens müde und bereit zu gehen, einfach weil ihr Leben erfüllt war. Und es ist schön, ihnen zuzuhören, weil sie so viel erlebt haben. Die Jungen haben oft noch nicht alles erledigt, was sie erledigen wollten. Wobei man das auch nicht verallgemeinern darf. Letztlich hängt jeder irgendwie am Leben.

Es gibt das Klischee, dass auf dem Sterbebett viele Menschen die Dinge bedauern, die sie nicht getan haben. Erleben Sie das auch?

Nicht in der Form, nein. Ich war allerdings auch noch nie dabei, als ein Mensch gestorben ist, außer bei meiner eigenen Oma.

Was sind denn die größten Ängste, die die Menschen plagen, die Sie begleiten? Ist es die Angst vor dem Tod?

Die meisten Sorgen machen sich die Sterbenden nicht über sich selbst, sondern um ihre Angehörigen. Was wird aus dem geliebten Partner, was aus möglicherweise minderjährigen Kindern? Die Menschen, zu denen ich komme, beschäftigen sich aber so viel mit dem Thema Tod, dass sie mit mir nicht auch noch darüber reden wollen. Ich bin dafür da, ihnen ein bisschen Freude zu schenken.

Katrin Krabbe bei der Europameisterschaft 1990 in Kroatien
Katrin Krabbe bei der Europameisterschaft 1990 in Kroatien © picture-alliance / Augenklick/ F

Was reden Sie mit den Leuten? Erzählen Sie auch von sich, von Ihrer Sportkarriere?

Es ist nicht so, dass die, die ich begleite, mich als Promi sehen. Aber ich erzähle auch von mir, von meinem Alltag oder Dingen, die ich erlebt habe. Worüber wir reden, das kommt immer darauf an, wie sehr sich Menschen öffnen. Manchmal muss man auch schweigen und die Stille aushalten können. Ich spüre schnell, wie es dem Gegenüber geht und worauf es sich einlassen will. Manche sind froh, wenn ein Fremder kommt, weil sie offener mit ihm reden können als mit den eigenen Angehörigen. Ich konnte mir nie eine Situation vorstellen, in der ich den Kontakt mit meiner Familie abbrechen würde. Aber bei manchen anderen Menschen ist das leider nicht so. Und die vertrauen mir dann sehr intime Dinge an, die natürlich der Schweigepflicht unterliegen. Das nehme ich sehr ernst.

Hadern die meisten mit ihrem Schicksal, oder nehmen sie es an?

Natürlich gibt es welche, die verbittert sind, unzufrieden mit sich und ihrem Leben. Aber die meisten sind dankbar für die Zeit, die noch bleibt.

Haben Sie auch schon mal eine Begleitung abgelehnt oder abgebrochen, weil Sie das Gefühl hatten, keine Hilfe sein zu können?

Nein, noch nie. Einmal hatte ich eine Frau, die war sehr negativ, hat nur geschimpft. Das hat viel Kraft gekostet. Aber ich habe daraus gelernt.

Wie verarbeiten Sie das Leid, das Sie sehen?

Zum Glück habe ich ein sehr schönes, stabiles Umfeld mit guten Freunden, mit denen ich intensiv und sehr ehrlich reden kann. Noch ist aber auch nichts passiert, das mich derart zu Boden geworfen hätte, dass ich darunter zerbrochen wäre. Ich habe ein Ritual nach jedem Termin, den ich wahrnehme. Ich gehe dann für 20, 30 Minuten in die Natur. Dort nehme ich ganz bewusst die Stille in mich auf und spüre dadurch eine tiefe Dankbarkeit für das, was ich in meinem Leben habe. Ich denke dann an meine Söhne, meine Eltern, meine Freunde. Und ich bin sehr dankbar dafür, dass das Leben mir Bob geschickt hat. Das hilft mir zu verarbeiten.

Wenn jemand stirbt, den Sie begleitet haben, was macht das mit Ihnen? Trauern Sie? Gehen Sie auf die Beerdigung?

Wir werden informiert, wenn jemand gegangen ist. Einmal war ich im Urlaub, als es passierte, dann bin ich nach meiner Rückkehr mit den Hinterbliebenen zum Friedhof gefahren. Auf einer Beerdigung war ich noch nicht, dazu waren die Beziehungen nicht intensiv genug, ich bin ja auch erst seit zwei Jahren dabei. Aber ich könnte mir vorstellen, das zu tun.

Sie begleiten Menschen, die wissen, dass ihnen oder dem, den sie lieben, nur noch wenig Zeit bleibt. Kommt da bei Ihnen manchmal der Gedanke auf, dass ein schneller, plötzlicher Tod die bessere Alternative wäre?

Für denjenigen, der stirbt, mag das so sein. Für die Angehörigen jedoch ist es oft so, dass sie dankbar sind, sich angemessen verabschieden zu können. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schlimm es ist, wenn ein Mensch plötzlich nicht mehr da ist. Als sich mein Mann das Leben nahm, mussten meine Söhne und ich das schmerzhaft erfahren.

Hat der Selbstmord Ihres Mannes bewirkt, dass Sie sich um das Thema Tod mehr Gedanken machen?

Ich habe mit der Sterbebegleitung schon davor begonnen. Sicherlich war sein Freitod aber eine zusätzliche Erfahrung, die viel angestoßen hat.

Sie haben in der Sendung „Nachtcafé“ im Herbst 2015 offen über diese Erfahrung gesprochen. Heute, da Sie in Ihrem Ehrenamt spüren, wie sehr Menschen am Leben hängen: Denken Sie anders über Selbstmord?

Nach der Sendung wurde es so dargestellt, dass ich meiner Wut über die Entscheidung meines Mannes Luft gemacht hätte. Wut habe ich aber nie gespürt. Die Entscheidung zu treffen, selbstbestimmt aus dem Leben zu gehen, erfordert radikale Ehrlichkeit mit sich selbst. Und es gibt immer einen Grund, den wir Außenstehenden vielleicht nicht verstehen können. Dagegen anzukämpfen erfordert viel Kraft, und bei manchen ist die Bereitschaft, den Kampf aufzunehmen, nicht mehr da. Deshalb ist es vielmehr dieses Gefühl: Schade, dass er sich keine Chance gegeben hat. Denn aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es immer Möglichkeiten gibt, wieder aufzustehen.

Würden Sie im Rückblick sagen, dass Ihr Leben mit all den Höhen und Tiefen Sie auf das, was Sie heute tun, vorbereitet hat?

Mit Sicherheit. Ich bin mit vielen Situationen umgegangen, in denen ich anfangs dachte, es niemals schaffen zu können. Aber egal, was passiert, es geht immer wieder eine Tür auf, es werden dir Hände gereicht. Daraus lernt man unheimlich viel, und mittlerweile bin ich der Meinung, dass man alles schaffen kann, wenn man es will. Irgendwann scheint immer wieder die Sonne.

Das kann man Sterbenden allerdings nicht mehr zur Ermutigung sagen. Haben Sie dennoch das Gefühl, denen, die Sie begleiten, Lebensmut zu geben?

Nein, das Leben ist endlich, das wissen wir alle. Und die, die ich begleite, wollen gar keinen Lebensmut mehr. Da geht es nur noch darum, aus dem Leben, das noch bleibt, das Beste zu machen. Zu lachen, zu lieben, Freude zu empfinden. Und das ist das, was ich oft gespiegelt bekomme: Dass es mit mir lustig ist. Und das finde ich besonders schön.

Frau Zimmermann, wie oft denken Sie über Ihren eigenen Tod nach?

Kaum, das ist mühselig. Wir können es uns ja doch nicht aussuchen, wann und wie wir sterben. Ich mache mir grundsätzlich nicht viele Gedanken über den Tod. Ich verbinde auch das Hospiz nicht mit dem Tod, denn es ist ein warmer, heller Ort, an dem gelebt wird.

Haben Sie denn Angst vorm Sterben?

Ich kann nicht sagen, wie es sein wird, wenn es so weit ist. Ich finde es schön zu wissen, dass es Sterbebegleitung gibt. Aber auch, dass die Palliativmedizin so weit fortgeschritten ist, dass niemand Schmerzen leiden muss. Stand heute kann ich sagen, dass mir der Gedanke an den Tod keine Angst macht. Ich bin eher neugierig, ob danach etwas kommt.

Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?

Ich habe viele Bücher zu diesem Thema gelesen, und ich glaube nicht, dass der Tod das Ende ist.

Glauben Sie an einen Gott, der das steuert?

Ich bin gläubig, aber nicht Mitglied irgendeiner Kirche. Für mich ist Gott keine Person, die lenkt, sondern die Pflanze auf meinem Balkon, das Meeresrauschen, das Vermögen, Liebe empfinden zu können. Einfach alles, was mein Leben in seiner Gesamtheit ausmacht.

Gestatten Sie noch diese Frage: Was hält ein Mensch, der Sterbende bis zu einem würdigen Ableben begleitet, von Sterbehilfe?

Ich versuche, für jeden Menschen, der sich dafür entscheidet, Verständnis aufzubringen. Aber persönlich finde ich Sterbehilfe nicht gut, weil es wenig Achtung vor dem eigenen Selbst bedeutet, wenn man seinem Leben ein Ende setzen lässt. Das Leben sollte jedem von uns mehr wert sein.