London. Im WM-Kampf gegen Anthony Joshua in London steht Wladimir Klitschko am Scheideweg. Vor allem die Stil-Frage ist spannend.

Als Wladimir Klitschko auf der Abschlusspressekonferenz einen USB-Stick aus seiner Tasche hervorholt, auf dem eine Videobotschaft mit seiner Prognose gespeichert ist, ist die Aufregung unter den vielen Dutzend internationalen Medienvertretern groß. Ist das ein Psychotrick, mit dem Klitschko seinen Rivalen Anthony Joshua unter mentalen Druck zu setzen versucht? Die Auflösung – den Inhalt der Botschaft wird nur sehen, wer Klitschkos Kampfmantel mit dem Datenstick in der Tasche zugunsten seiner Stiftung für Kinder in Not ersteigert – geht im allgemeinen Geraune fast unter. Und so hat der Ukrainer erreicht, was er wollte: Ein Zeichen zu setzen, dass mit seiner Cleverness zu rechnen ist. Dass er das Spiel noch beherrscht und für jede Überraschung gut ist.

Alles, was die Tage vor dem Megafight zu bieten hatten, war Routine für den Mann, der im 21. Jahr seiner Profiboxkarriere den 69. Kampf bestreiten wird. Und doch wird an diesem Sonnabend (22 Uhr/RTL), wenn 90.000 Fans im ausverkauften Wembley-Stadion zuschauen werden, wie Klitschko und Joshua um den IBF-WM-Gürtel des 27 Jahre alten Briten und den vakanten WBA-Titel kämpfen, etwas anders sein. Klitschko wird als Erster in den Ring gerufen werden, denn er geht erstmals, seit er im April 2006 gegen Chris Byrd (USA) IBF-Weltmeister wurde, wieder als Herausforderer ins Seilgeviert.

Klitschkos Erleichterung ist nicht gespielt

Die Niederlage gegen Joshuas Landsmann Tyson Fury im November 2015 hat den Ukrainer nicht nur seine drei WM-Titel gekostet, sondern auch seine Stellung als Dominator der Königsklasse. Lähmende Langeweile, das hat Klitschko kürzlich selbst eingestanden, hatte sich mit seiner elfeinhalb Jahre währenden Siegesserie wie eine Decke aus Stahl über das Schwergewichtsboxen gebreitet. Nun ist aus dem Gejagten wieder ein Jäger geworden, und die Erleichterung darüber, die der Wahl-Hamburger ausstrahlt, ist nicht gespielt.

Was ihn an seiner neuen Ausgangslage so besonders reizt, hat Klitschko vor einigen Wochen im Trainingscamp in Tirol beschrieben. „Wenn du einen Menschen zerstören willst, dann gib ihm ein paar Jahre Erfolg“, sagte er. Er habe im Lauf der Jahre einen Modus entwickelt, in dem es nur noch darum ging, etwas zu verteidigen; Titel, Rekorde oder nur einen Ruf. „Dadurch bin ich vorsichtig geworden, und wer vorsichtig ist, verpasst Gelegenheiten.“

Die Niederlage gegen Fury nicht ausmerzen zu können, weil der Brite den angesetzten Revanchekampf zunächst verletzt und dann wegen seiner schweren Depressionen absagen musste, habe zwar ein Jahr an ihm genagt. „Aber jetzt bekomme ich eine Bühne, die auch als Weltmeister nicht größer hätte sein können. Und ich bin durch die Niederlage viel hungriger, als ich es wäre, wenn Joshua mein Pflichtherausforderer wäre.“

Mentalcoach: Klitschko weiß, wie es geht

Heiko Hansen beobachtet die Berufsboxszene seit vielen Jahren. Der 50 Jahre alte Sportpädagoge und Mentalcoach aus Bad Bramstedt arbeitet mit Leistungssportlern aus diversen Sparten und war mehrere Jahre als Psychologe im Hamburger Universum-Stall aktiv. Er glaubt, dass Klitschko gewinnen wird, wenn es ihm gelingt, seine Angst zu überwinden und mit Ruhe zu agieren. Ein Vorteil sei, dass er Erfahrung in ähnlichen Situationen gesammelt habe. „Er hat vor Fury schon dreimal verloren, und jedes Mal ist er stärker zurückgekommen. Er weiß, wie das geht!“

Insbesondere das Comeback im Jahr 2005 sollte Klitschkos Fans Mut machen. Nachdem er im April 2004 im Kampf um den vakanten WBO-Titel gegen Lamon Brewster (USA) verloren hatte, ging es in einem Ausscheidungskampf gegen den hoch eingeschätzten Nigerianer Samuel Peter um seine Karriere. Als „Dead Man Walking“ hatten sie ihn in Amerika verspottet, doch Klitschko schaffte die Auferstehung, siegte nach Punkten, obwohl er viermal zu Boden musste. Diese Nacht in Atlantic City war der Wendepunkt seiner Laufbahn.

Jene Erfahrung, die Klitschko dem 14 Jahre jüngeren Champion voraus hat, stufen auch ehemalige Schwergewichtsgrößen wie Lennox Lewis oder Evander Holyfield, die beide als Experten für RTL im Einsatz sind, als möglicherweise siegbringend ein. Tatsächlich hat Joshua, der alle seine 18 Kämpfe vorzeitig beendete, noch nie länger als sieben Runden im Ring gestanden. Dafür schätzen die meisten Experten ihn als den schnelleren, athletischeren Kämpfer ein. Für Hansen ist der Reiz des Duells der, „dass der junge Löwe den alten Löwen wegbeißen kann. In diesem Kampf geht es darum, wer das Zepter erobert. Und das vor 90.000 Fans, das ist mehr als speziell. Diese Emotionen sind es, die Klitschko antreiben.“

Klitschkos bleibt seinem Stil weitgehend treu

Es sind die vielen kleinen Fragezeichen, die eine Prognose auf den Kampfausgang fast unmöglich machen. Ist Klitschko nach 17 Monaten Pause und mit 41 Jahren noch in der Lage, seine Höchstleistung zu bringen? Ihm muss es gelingen, aggressiver und offensiver zu boxen als in vielen Kämpfen seiner Ära als Champion. Dass er das kann, bewies er im November 2014, als er in Hamburg in seinem letzten überzeugenden Auftritt den Bulgaren Kubrat Pulev in Runde fünf ausknockte. „Natürlich muss ich angreifen, denn ich will das haben, was Joshua hat“, sagt Klitschko. Dennoch habe er an seinem Stil nicht viel verändert. „Ich weiß, dass ich die Waffen habe, um zu gewinnen, und ich bin auf alles vorbereitet.“

Cheftrainer Johnathon Banks unterstreicht das: „Wenn er seine Werkzeuge richtig nutzt, wird er gewinnen“, sagt er, „seinen Stil muss er nicht verändern. Das Einzige, was sich verändert hat, ist seine Motivation.“ Heiko Hansen glaubt das auch. „Es entspräche nicht Klitschkos Mentalität, nun wild draufzuhauen. Er wird weiter auf Sicherheit bedacht sein, aber versuchen, mehr Dominanzpunkte zu setzen. Bitter wird es, wenn Joshua ihn früh hart trifft und ihn dann auskontert. Damit kann Wladimir am wenigsten umgehen.“

Beide waren schon Olympiasieger

Tatsächlich darf man auf Joshuas Taktik gespannt sein. Kämpft er gewohnt offensiv, ist die Chance am höchsten, Klitschko schnell in den Rückwärtsgang zu zwingen, in dem dieser zu unkoordinierten Handlungen neigt. Allerdings ist dann auch die Gefahr größer, selbst k.o. zu gehen. Im Sparring, heißt es, sei der Sohn nigerianischer Einwanderer mehrmals am Boden gewesen. Im Duell mit seinem Landsmann Dillian Whyte im Dezember 2015 wackelte Joshua in Runde zwei nach harten Kopftreffern bedenklich, rettete sich aber in die Pause und knockte Whyte in Runde sieben aus. Gegen einen Mann vom Kaliber Klitschkos könnte das schief gehen. Macht ihn das vorsichtiger?

Wie auch immer: Ein sportlich hochklassiges Duell zweier Olympiasieger (Klitschko 1996, Joshua 2012), das keinerlei künstlichen Ballyhoos bedurfte, um die Massen zu elektrisieren, ist das, was das Schwergewichtsboxen braucht. Wladimir Klitschko kann vom Jäger wieder zum Gejagten werden – oder zur Beute. Vor allem aber kann er beweisen, dass im Winter seiner Karriere mehr in ihm steckt als ein ehemaliger, gealterter Champion. Dass ihn das antreibt, kann man verstehen.