Hamburg. Um seinem Bruder Artem zur Olympiamedaille im Boxen zu verhelfen, steckt Robert Harutyunyan zurück. Er nahm sogar sechs Kilo ab.

Die Zuschauer im Pavillon Riocentro hatte er ausgeblendet. Die Hände, mal als Schutz vor den Kopf gehalten, mal als Faust durch die Luft gestochen in Richtung eines imaginären Gegners, arbeiteten ohne Unterlass. In den Rundenpausen sackte er auf seinen Klappsitz, pustete und pumpte, die Ringglocke ließ ihn wieder aufspringen, die Hände flogen weiter. Und als das Urteil gesprochen war, hatte Robert Harutyunyan das Gefühl, selbst im Ring gestanden zu haben, so fertig war er vom Schattenboxen auf der Tribüne. „Unvorstellbar, wie sehr man leiden kann, wenn der eigene Bruder boxt“, sagt er.

Robert Harutyunyan hätte selbst im Ring stehen sollen bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro. Er ist in Deutschland die Nummer eins im Leichtgewicht, der Klasse bis 60 Kilogramm. Sein Bruder Artem und er hatten immer davon geträumt, gemeinsam beim größten Sportfest der Welt antreten zu können. Artem, ein Jahr jünger als der 26 Jahre alte Robert, hatte sich als Weltmeister im Halbweltergewicht (bis 64 kg) bereits im August 2015 für Brasilien qualifiziert, Robert sollte im Juni nachziehen.

Aus Sicherheitsgründen blieben die Brüder dem Qualifizierungsspiel fern

Dann jedoch vergab der Weltverband Aiba das entscheidende Qualifikationsturnier nach Baku, die Hauptstadt Aserbaidschans. Die Harutyunyans waren als Kleinkinder mit den Eltern aus Armenien nach Hamburg gekommen, weil der Krieg mit dem Nachbarland Aserbaidschan die Familie zermürbte und bedrohte. Der Konflikt war in Deutschland aus ihrem Leben gewichen, nun war er plötzlich wieder zurück. Und Robert entschied gemeinsam mit dem Bruder, den Eltern und Trainer Michael Timm, aus Sicherheitsgründen auf den Baku-Trip zu verzichten.

„Der Moment, in dem ich wusste, dass der Traum von Rio geplatzt war, tat sehr weh“, sagt Robert Harutyunyan einige Monate später, während er im Café Alex am Jungfernstieg an einem schwarzen Tee nippt. „Aber ich habe schnell verstanden, dass es keinen Sinn hat zu trauern, sondern dass ich trotzdem für Artem da sein muss.“ Also entschied das Team, Robert als Sparringspartner mit nach Brasilien zu nehmen. Er durfte nicht in der Ringecke stehen, sondern sah von der Tribüne aus, wie Artem kämpfte.

In Rio wartete er im Apartment, bis der Bruder ihm eine Nachricht schickte

Er durfte auch nicht im Athletendorf schlafen, sondern wartete in einem Appartement in der Nähe, bis der Bruder wach war und ihm eine Nachricht schickte. Dann verbrachten sie die Tage zusammen. Der Ältere trainierte mit dem Jüngeren, er nahm sogar sechs Kilogramm ab, weil er sich genauso ernährte wie der Bruder, der sein Gewichtslimit einhalten musste. „Ich habe in Rio nichts unternommen, sondern war rund um die Uhr da, wenn Artem mich brauchte“, sagt er.

Der Lohn war die Bronzemedaille, mit der Artem die Erfolgsbilanz der deutschen Boxer rettete, von denen alle fünf weiteren Starter bereits in der Auftaktrunde gescheitert waren. Für Robert war es, als hätte er selbst Edelmetall erkämpft. Die Frage, wie es sich anfühle, plötzlich im Schatten des Bruders zu verschwinden, obwohl man eigentlich gemeinsam im Licht hätte stehen wollen, kann er deshalb nicht verstehen. „Sein Erfolg ist mein Erfolg, und umgekehrt gilt das genauso. Deshalb gibt es bei uns keine Spur von Neid, sondern nur das Gefühl, gemeinsam stärker zu sein als allein, und das treibt uns an und hebt uns von anderen ab“, sagt er.

Die Brüder wurden dazu erzogen, immer für den anderen einzustehen

Man muss zurückschauen in die Kindheit der beiden Athleten, die für den TH Eilbeck starten, aber seit 2010 am Olympiastützpunkt Schwerin trainieren, um zu verstehen, was sie so zusammengeschweißt hat. „Wir kamen als Flüchtlinge und hatten nichts. Aber unsere Eltern haben uns dazu erzogen, nicht zu jammern, sondern hart zu arbeiten und immer für den anderen einzustehen“, sagt Robert. Seitdem teilen sie – bis auf ihre Lebenspartnerinnen – alles, haben mit dem Label HB Boxing eine gemeinsame Plattform gegründet, um als unzertrennbares Duo auftreten zu können.

Niemals habe es seitdem ernsthaften Streit gegeben, auch keine Positionskämpfe wie bei anderen berühmten Box-Brüdern wie den Klitschkos, die sich abseits des Boxrings gern miteinander messen. „Das mag schwer zu glauben sein, aber wir brauchen das nicht“, sagt Robert, „wir gehen stets respekt- und verständnisvoll miteinander um.“

Dass die beiden Brüder oft gefragt werden, worüber sie noch reden würden, obwohl sie nicht selten 24 Stunden am Tag miteinander verbringen, lässt Robert schmunzeln. „Es gibt doch so viel zu besprechen“, sagt er.

Bronzegewinner Artem könnte den Sprung ins Profigeschäft wagen

Das stimmt wohl, zum Beispiel die Frage nach der Zukunft. Artem Harutyunyan hat durch den Bronzegewinn in Rio nationale Bekanntheit erlangt, er wird in Hamburg mittlerweile auf gesellschaftliche Empfänge und zu Podiumsdiskussionen geladen, auch weil er sich im Moment des Triumphs wohltuend bodenständig und zurückhaltend und für viele erstaunlich eloquent präsentiert hatte. Robert hat genau dieselben Qualitäten, aber er ist derzeit nur dabei statt mittendrin. Stören tut ihn das nicht, im Gegenteil: „Ich bin mächtig stolz darauf, wie Artem sich verkauft“, sagt er.

Dass der Olympiadritte in den USA den Sprung ins Profigeschäft wagen könnte, ist eine Option, die derzeit diskutiert wird. Robert dagegen möchte sich seinen Traum von Olympia als Aktiver 2020 in Tokio erfüllen, am liebsten an der Seite des Bruders. Aber er sagt: „Wenn es Artems Karriere hilft, dann bin ich bereit, dafür zurückzustecken. Umgekehrt ist es aber genauso. Deshalb werden wir eine Lösung finden. Klar ist, dass wir unseren Weg gemeinsam weitergehen werden.“ Auch wenn das bedeutet, dass einer auf der Tribüne mitkämpfen muss.