Hamburg. Der Schwimmer beklagt die mangelnde Wertschätzung seines Sports, will aber bis zu Olympia 2020 in Tokio weiterschwimmen.

Die Entscheidung hat sich Jacob Heidtmann wahrlich nicht leicht gemacht. „Es ging um vier Jahre meines Lebens“, sagt der 21-Jährige. Heidtmann ist einer der besten deutschen Schwimmer, nationaler Rekordhalter, WM-Fünfter über eine der härtesten Strecken seines Sports, die 400 Meter Lagen, die Perfektion in gleich den vier Stilarten fordert: Schmetterling, Rücken, Brust und Kraul. Bei den Olympischen Spielen im August in Rio wurde der Hamburger zur tragischen Figur, weil er im Vorlauf einen deutschen Rekord aufstellte, die fünftbeste Zeit aller Starter schwamm, locker den Endlauf erreicht hatte, wegen eines angeblichen Beinschlages zu viel aber disqualifiziert wurde. Danach stand für ihn fest: „Jetzt ist Schluss mit Leistungssport.“

Schon in den Tagen danach dämmerte es ihm: „Das kann es nicht gewesen sein, meine Karriere ist irgendwie unvollständig. Ich bin noch nicht fertig.“ Jetzt hat der sich entschlossen: „Ich mache weiter bis zu den Olympischen Sommerspielen 2020 in Tokio.“ Sein Potenzial hat er längst nicht ausgeschöpft. Ausdauer und Technik stimmen in etwa, meint er, athletisch aber könne er noch einiges zulegen.

2017 will er erst mal kürzertreten

Mit der Hamburger Bundesstützpunkttrainerin Petra Wolfram hat er am gestrigen Dienstag die Planungen für die nächsten Jahre besprochen. 2017 will er erst mal kürzertreten, sich auf das Studium der Sozialökonomie konzentrieren, das er im Herbst nach zuvor drei Semestern Politikwissenschaften beginnt. Ob er im Juli 2017 bei der WM in Budapest oder einen Monat später bei der Universiade, den Weltspielen der Studierenden, in Taipei (Taiwan) ins Becken springt, wollen beide in den nächsten Wochen festlegen. „Ich würde im nächsten Jahr gern nur noch acht statt zehn Trainingseinheiten in der Woche absolvieren“, sagt Heidtmann.

Seit Rio hat Heidtmann das Leben ein wenig mehr genossen, ist später aufgestanden, hat mal zehn, elf Stunden geschlafen. Für zwei Wochen hat er einen Freund in Australien besucht. Am vergangenen Sonnabend hat er sich nach Hannover aufgemacht, um seinen Lieblingsverein FC St. Pauli bei 96 auch mal auswärts Fußball spielen zu sehen. Sechs Kilo hat er in dieser Zeit zugenommen; zwar hat er „ganz normal“ gegessen wie zuvor, „nur habe ich nicht mehr trainiert“. Zeit, das zu tun, wozu man spontan Lust hast, passt normalerweise nicht in den durchgetakteten Kalender eines Leistungssportlers. „Hin und wieder nehme ich mir aber eine Auszeit, um mental der Tretmühle zu entfliehen, um den Kopf freizubekommen.“ Den Entschluss weiterzumachen, habe er bei klarem Verstand getroffen, in dem Bewusstsein, dass auch künftig Training seinen Alltag bestimmen wird: 6 Uhr aufstehen, 7.30 Uhr bis 9 Uhr Frühtraining, dann zur Uni, 16.30 bis 20 Uhr, Kraft- und zweites Wassertraining. Das sechs Tage in der Woche – wenn keine Wettkämpfe anstehen.

Dabei hätte es viele Gründe gegeben aufzuhören. Noch heute ärgert er sich, dass Bundestrainer Henning Lambertz in Rio keinen Protest gegen seine Disqualifikation einlegte. Der sei doch aussichtslos, wurde ihm beschieden. Zwei Tage später unterlief einem Japaner derselbe Fauxpas, dem Einspruch des Verbandes wurde stattgegeben. Heidtmann empfand es als mangelnde Wertschätzung, dass sich niemand für ihn einsetzte. „Es wäre doch zumindest ein Zeichen gewesen, dass man alles für seine Athleten tut“, sagt er.

Verbandswechsel kommt für ihn nicht in frage

Dennoch: weitermachen! Es ist nicht das Geld, sagt er, das ihn treibt, im Schwimmen gibt es nur für Ausnahmeathleten Auskömmliches zu verdienen. Heidtmann fährt nicht einmal Auto. Auch stört ihn die fehlende Anerkennung, die olympischen Sportlern von Politik und Öffentlichkeit entgegengebracht wird: „Kein Bundesminister war in Rio, geschweige denn Kanzlerin Angela Merkel. Zwei Jahre zuvor stand sie aber in Rio bei den Fußballern in der Kabine.“ Und natürlich hat Markus Deibler, der zurückgetretene Schwimm-Weltmeister, recht, wenn er sagt: „Wie uns um den Sport hierzulande außerhalb des Fußballs bestellt ist, zeigt, dass ein Dschungelkönig 150.000 Euro kassiert, ein Olympiasieg dagegen mit 20.000 Euro belohnt wird.“ Dann wäre da noch Doping, die fehlende Chancengleichheit für deutsche Sportler, weil das Internationale Olympische Komitee das Problem angeblich erkannt habe, es jedoch nicht angemessen bekämpfe.

„Es gäbe sicherlich zahlreiche Gründe, jetzt unter den Leistungssport einen Schlussstrich zu ziehen“, sagt Heidtmann, „aber das Schwimmen macht mir immer noch sehr viel Spaß. Und wenn man dazu Erfolg hat, wächst der weiter. Und das ist unbezahlbar.“

Sich den Spaß honorieren zu lassen, indem man zum Beispiel den Verband wechselt, etwa für das Emirat Katar schwimmt, das Spitzenathleten aus aller Welt mit Jahresgagen von bis zu 500.000 US-Dollar lockt, käme für ihn trotzdem nicht infrage. „Ob ich einen Adler oder einen gallischen Hahn auf dem Trainingsanzug trage, ist für mich nicht entscheidend. Schwimmen ist letztlich eine Individualsportart. Wenn ich auch gegen Grenzen und Zäune bin, irgendwo hört es auf. Für ein Land wie Katar anzutreten, das ausländische Arbeiter wie Sklaven behandelt, Frauen unterwirft und Homosexualität unter Strafe stellt, kann kein Geld der Welt rechtfertigen.“ Dass Fußball-Bundesligaclubs in Kenntnis der Lage dort ihre Trainingslager abhalten, will Heidtmann nicht verstehen. „Man muss auch mal Haltung zeigen“, sagt er.