Hamburg. Die Sportlerin nimmt trotz einer Querschnittslähmung und hohen Alters noch an Schwimmmeisterschaften teil.

Birgit Otto stellt ihren Rollstuhl am Beckenrand ab. Dann lässt sie sich vorsichtig heruntergleiten, hievt ihre Beine nacheinander ins Wasser und schwimmt los. 1000 Meter in Rückenlage, so wie jeden Mittwochabend im Familienbad Ohlsdorf. Otto (76) setzt nur die Arme ein, die Beine hält sie still, obschon sie den rechten Fuß noch etwas heben könnte. „Würde ich ihn einsetzen, käme ich völlig aus dem Rhythmus“, sagt sie. Früher sei sie auch gekrault, aber da drückten die Stangen, die sie ihr im Rücken eingesetzt haben, immer so auf die Lungen.

Birgit Otto ist Hamburgs einzige behinderte Wettkampfschwimmerin. Vor elf Jahren hat das Schicksal bei ihr zugeschlagen. Nach einem Eingriff an der Wirbelsäule hatte sich ein Hämatom entwickelt. Die Ärzte nahmen Birgit Ottos Beschwerden anfangs nicht ernst. Als sie den Ernst der Lage erkannten, war es zu spät. Die Diagnose: Inkomplette Querschnittslähmung in Höhe des zwölften Brustwirbels. Seitdem ist sie auf den Rollstuhl angewiesen. „Da bin ich erst mal in ein tiefes Loch gefallen“, sagt Otto. Die Stangen hätten sie ihr dann eingesetzt, um den Rumpf zu stabilisieren. Aber das sei nur der nächste Kunstfehler gewesen: Die Muskulatur baute ab, die Stangen schmerzten noch immer.

Acht Jahre lang kämpfte Otto vor Gericht um Entschädigung. Dann erst wurde ein Vergleich geschlossen. Otto erhielt 190.000 Euro. „Aber davon kann ich auch nicht wieder laufen“.

Ob sie den juristischen Kampf ohne den Sport durchgestanden hätte, weiß Birgit Otto nicht. Eine Freundin, die beim Hamburger Turnerbund von 1862 Jugendarbeit macht, empfahl ihr, sich an den Verein HVS-Integrativsport Hamburg zu wenden. Seitdem trainiert sie zweimal die Woche. Das erste Mal im Wasser „war schon komisch, ich bin erst mal abgesackt“. Aber nach und nach kam da dieses Gefühl der Leichtigkeit zurück. „Im Wasser reduziert sich das Körpergewicht ja auf zehn Prozent“, sagt Otto, „da merke ich meine Behinderung nicht so.“

Irgendwann kam der erste Wettkampf, in Braunschweig war es. Otto gewann, aber was ihr viel mehr in Erinnerung geblieben sei, waren zwei junge Mädchen, die sie traurig anschauten, weil sie ihnen die Medaille weggeschnappt hatte. Da hat sie sich geschworen, nicht mehr gegen geistig Behinderte anzutreten.

Das Gewinnen sei ihr ohnehin nicht so wichtig. Otto hat schon vor ihrer Behinderung Medaillen gesammelt, war norddeutsche Meisterin, obschon der Beinschlag wegen eines Hüftleidens schon damals eingeschränkt war. Die Zeiten, ja, auf die ist sie stolz. Über 200 Meter Rücken hält sie den Weltrekord auf der Kurzbahn: 4:53,05 Minuten. „Aber das Wichtigste ist doch, dass ich ankomme und überhaupt teilhaben kann.“

Birgit Otto wünscht sich Mitstreiter

Birgit Otto ist eine Einzelkämpferin. In Hamburg gibt es außer ihr keine, die um Medaillen schwimmt, schon gar nicht in ihrer Altersklasse. Ihre Gegnerinnen sind inzwischen bis zu 15 Jahre jünger. Eine Behinderten-Trainingsgruppe gibt es in Hamburg auch nicht mehr. Zu den Wettkämpfen muss sie sich selbst anmelden. Aber Birgit Otto lässt sich nicht stoppen: „Ich will zeigen, dass man mit Behinderung sehr wohl schwimmen kann. Und ich würde mich freuen, wenn ich jemanden in meiner Situation dazu animieren können, es auch zu versuchen. Die Verletzungsgefahr ist gleich null. Und man braucht ja nicht viel, nur ein Becken.“

Aber das ist in Hamburg unter Umständen schon viel verlangt, jedenfalls wenn man sportlich etwas erreichen will. Als einziger Behindertensportclub Hamburgs hat der HVS-Integrativsport Schwimmzeiten bei Bäderland, die über Zuwendungen der Stadt abgegolten sind – allerdings nur sieben pro Woche, verteilt aufs gesamte Stadtgebiet. Weitere Zeiten gibt es nur gegen Zuzahlung: pro Stunde bis zu 80 Euro für zwei Bahnen. „Aus unserer Sicht sind das Mondpreise“, klagt Andreas Meyer, Geschäftsführer des Behinderten- und Rehabilitations-Sportverbands Hamburg. Auch deshalb sei Schwimmen als Leistungs- und Wettkampfsport zu einer Randerscheinung in Hamburg geworden, einer Stadt immerhin, die noch in den 80er-Jahren Paralympics-Sieger in dieser Disziplin hervorbrachte. Um wieder ähnliche Erfolge zu feiern, müssten laut Meyer mindestens an sechs Tagen in der Woche jeweils morgens und abends Schwimmzeiten zur Verfügung stehen.

Beim Rehabilitationssport spiele das Schwimmen weiterhin eine große Rolle. Allerdings fehle es auch hier an Kapazitäten. Behinderte müssten bis zu einem Jahr auf verordnete Maßnahmen warten. Meyer hofft, dass durch das 64. Landesschwimmfest der Menschen mit Behinderung, das für den 27. November erstmals als offene Hamburger Meisterschaften ausgeschrieben ist, sich wieder Behinderte fürs Wettkampfschwimmen begeistern lassen.

Birgit Otto würde es sich wünschen, Mitstreiter zu bekommen. Sie ist in den vergangenen zwei Wochen häufiger nachts aufgestanden und hat sich die Paralympics angeschaut. Sie hat Menschen gesehen, die ein ähnliches Schicksal zu tragen haben wie sie. Oder ein noch schwereres. „In solchen Momenten“, sagt Birgit Otto, „denke ich, wie gut es mir doch geht.“