Évian-les-Bains. Das 1:2 bei der EM 2012 hat ihn zu dem Trainer gemacht, der den Titel holen kann. Joachim Löw ist ein Espresso-Trainer geworden.

Am Jahrestag seiner größten Niederlage lässt sich Joachim Löw einen Espresso servieren und lächelt. Exakt vier Jahre her ist das 1:2 gegen Italien im EM-Halbfinale 2012 am Dienstag, als der Bundestrainer in Évian-les-Bains zur Presse spricht. Es war klar, dass dieses Trauma wieder aufgewärmt werden würde. Es wartet erneut Italien in einem EM-K.-o.-Spiel – diesmal im Viertelfinale am Sonnabend in Bordeaux (21 Uhr). Und Löw ist darauf vorbereitet. Deshalb war der Espresso vielleicht gar nicht so zufällig in die Kameras serviert worden.

„Wir haben kein Italien-Trauma. Das ist kalter Kaffee“, sagt Löw gut gelaunt. „Frischer Espresso ist uns lieber. Da müssen wir schauen, dass der uns am Sonnabend sehr gut schmeckt.“ Lachen im Saal. Löw hat Grund dazu, denn gerade finden ihn viele gut, die ihn vor ein paar Tagen noch schlecht fanden, als es die deutsche Nationalelf wagte, gegen Polen 0:0 zu spielen. Jetzt hat Deutschland die Slowakei im Achtelfinale verhauen, und gilt wieder als großer Turnierfavorit. Löw aber hat das Spiel am Rande des Spielfelds längst zu spielen gelernt: Er spricht von einem Etappenziel, das erreicht sei, aber warnt: „Bescheidenheit und Demut ist das Gebot der Stunde“, sagt er.

Joachim Löw ist ein Espresso-Trainer geworden: Er weiß, dass die Kritik in Deutschland schnell kommt und schnell wieder geht. Er weiß, dass das richtig bitter schmecken kann, aber auch wach macht für die Aufgaben, die noch vor ihm liegen. Und das hat mit der bittersten aller 22 Niederlagen seiner Karriere als Bundestrainer (135 Spiele) zu tun: das EM-Aus gegen Italien 2012.

Italiens alte Herren siegen abgezockt gegen Spanien

Italiens alte Herren siegen abgezockt gegen Spanien

Graziano Pelle traf in der Nachspielzeit zum 2:0 für Italien gegen Spanien und machte damit alles klar: Deutschland trifft im Viertelfinale auf seinen Angstgegner
Graziano Pelle traf in der Nachspielzeit zum 2:0 für Italien gegen Spanien und machte damit alles klar: Deutschland trifft im Viertelfinale auf seinen Angstgegner © REUTERS | Darren Staples
Piqué hatte in der 89. Minute noch die Riesenchance zum Ausgleich, der Verteidiger scheiterte aber an Buffon
Piqué hatte in der 89. Minute noch die Riesenchance zum Ausgleich, der Verteidiger scheiterte aber an Buffon © REUTERS | Lee Smith
Italien mausert sich immer mehr zum Titelfavoriten bei der EM
Italien mausert sich immer mehr zum Titelfavoriten bei der EM © REUTERS | Darren Staples
Riesenjubel nach dem Spiel bei den Oldies Gianluigi Buffon und Giorgio Chiellini
Riesenjubel nach dem Spiel bei den Oldies Gianluigi Buffon und Giorgio Chiellini © REUTERS | Lee Smith
Buffon war der bärenstarke Rückhalt für Italien. Wie Neuer hat auch er noch kein Gegentor bei der EM kassiert
Buffon war der bärenstarke Rückhalt für Italien. Wie Neuer hat auch er noch kein Gegentor bei der EM kassiert © REUTERS | John Sibley
Nach dem Schlusspfiff schloss er sogar Frieden mit der Latte. Nach dem Belgien-Spiel stürzte er noch beim Griff an den Querbalken
Nach dem Schlusspfiff schloss er sogar Frieden mit der Latte. Nach dem Belgien-Spiel stürzte er noch beim Griff an den Querbalken © REUTERS | Christian Hartmann
Für Titelverteidiger Spanien ist Turnier nach zwei Niederlagen in Folge hingegen früh beendet
Für Titelverteidiger Spanien ist Turnier nach zwei Niederlagen in Folge hingegen früh beendet © REUTERS | John Sibley
Das Spiel war spielerisch und taktisch auf hohem Niveau
Das Spiel war spielerisch und taktisch auf hohem Niveau © dpa | Filip Singer
Chiellini schoss Italien in Führung, als er in dieser Szene den Ball über die Linie drückte
Chiellini schoss Italien in Führung, als er in dieser Szene den Ball über die Linie drückte © dpa | Christian Charisius
War es das für Spaniens Nationaltrainer Vicente del Bosque?
War es das für Spaniens Nationaltrainer Vicente del Bosque? © dpa | Christian Charisius
Es ging häufig hart zur Sache
Es ging häufig hart zur Sache © dpa | Christian Charisius
Die spanischen Ballkünstler Andres Iniesta und David Silva waren lange Zeit abgemeldet und fanden erst spät ins Spiel
Die spanischen Ballkünstler Andres Iniesta und David Silva waren lange Zeit abgemeldet und fanden erst spät ins Spiel © dpa | Georgi Licovski
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15 Pflichtspiele am Stück hatte seine Mannschaft gewonnen, bis sie in Warschau auf Italien traf. Weltrekord. „Super-Jogi“ wurde Löw genannt, und Super-Jogi machte alles richtig. Nach dem Viertelfinalsieg gegen Griechenland wurde Löw dafür gefeiert, Reus, Klose und Schürrle gebracht zu haben. Dann kam Italien, und vielleicht glaubte Löw langsam selbst an Super-Jogi: Wieder drei Wechsel: Gomez, Podolski und Kroos rein. Toni Kroos sollte Andrea Pirlo bewachen.

Die Sache ging schief: Balotellis Muskeln, 1:2, Arrivederci. Es gibt Spiele, die bleiben an einem Trainer hängen. Dieses war ein Stempel: Mit dem holen wir nix. „An diesem Tag haben wir alle nicht die Leistung gebracht, die wir hätten bringen müssen“, sagt Löw heute und meint auch sich selbst. Das tat er damals nicht.

„Klar habe ich als Trainer dafür die Verantwortung übernommen.“ Wochenlang zog er sich nach Sardinien und Sylt zurück. Aber das Schlimmste für Löw war, dass er sich und sein Team verraten hatte: Er hatte das eigene Spiel den Italienern angepasst. Das hielt ihn danach nächtelang wach. „Ich habe mich danach gerichtet, Andrea Pirlo aus dem Spiel zu nehmen. Das ist nicht aufgegangen.“

Dass das Aus von Warschau nicht das Ende dieser Geschichte wurde, war lange ungewiss. Von heute aus betrachtet kann man sagen: Es sollte richtungsweisend werden. „Diese schmerzliche Niederlage hat mich in meiner persönlichen Entwicklung weitergebracht und mir bei der WM 2014 sehr geholfen“, sagt Löw. „Es war für mich eine gute Lehre. Nie mehr danach hat er seine Mannschaft nach dem Gegner ausgerichtet und wird das auch am Sonnabend nicht tun, wenn es wieder gegen Italien geht: „Wir müssen versuchen, unseren Fußball durchzuziehen.“

3:0! Deutschland fertigt die Slowakei ab

3:0! Deutschland fertigt die Slowakei ab

Julian Draxler erzielte das 3:0 gegen die Slowakei
Julian Draxler erzielte das 3:0 gegen die Slowakei © REUTERS | Pascal Rossignol
Der Wolfsburger traf sehenswert in den Winkel
Der Wolfsburger traf sehenswert in den Winkel © REUTERS | BENOIT TESSIER
Mario Gomez jubelt über sein Tor zum 2:0 für Deutschland nach einer starken Vorarbeit von Draxler
Mario Gomez jubelt über sein Tor zum 2:0 für Deutschland nach einer starken Vorarbeit von Draxler © REUTERS | Lee Smith
Gomez vollstreckte eiskalt
Gomez vollstreckte eiskalt © Getty Images | Matthias Hangst
Boateng schoss Deutschland im Achtelfinale gegen die Slowakei in Führung
Boateng schoss Deutschland im Achtelfinale gegen die Slowakei in Führung © REUTERS | Carl Recine
Der Abwehrchef rannte beim Jubel sofort zu Mannschaftsarzt Müller-Wohlfahrt, der ihn rechtzeitig fit machte
Der Abwehrchef rannte beim Jubel sofort zu Mannschaftsarzt Müller-Wohlfahrt, der ihn rechtzeitig fit machte © dpa | Rolex Dela Pena
Der Ball schlug flach unten links im Eck ein
Der Ball schlug flach unten links im Eck ein © dpa | Rolex Dela Pena
Boateng traf mit einem herrlichen Volley
Boateng traf mit einem herrlichen Volley © REUTERS | Carl Recine
Mesut Özil verschoss einen Elfmeter in der Anfangsphase
Mesut Özil verschoss einen Elfmeter in der Anfangsphase © REUTERS | Lee Smith
Der Elfmeter war ganz schwach halbhoch ins Eck geschossen
Der Elfmeter war ganz schwach halbhoch ins Eck geschossen © Getty Images | Matthias Hangst
Ein Foul von Skrtel an Gomez führte zum Strafstoß
Ein Foul von Skrtel an Gomez führte zum Strafstoß © Getty Images | Mike Hewitt
Es will einfach nicht sein Turnier werden: Mesut Özil
Es will einfach nicht sein Turnier werden: Mesut Özil © Getty Images | Mike Hewitt
Von Starspieler Marek Hamsik war nur wenig zu sehen
Von Starspieler Marek Hamsik war nur wenig zu sehen © dpa | Laurent Dubrule
Manuel Neuer musste in der ersten Halbzeit zweimal für Deutschland klären. Einmal bei einem zu kurz geratenen Rückpass von Hector...
Manuel Neuer musste in der ersten Halbzeit zweimal für Deutschland klären. Einmal bei einem zu kurz geratenen Rückpass von Hector... © dpa | Shawn Thew
... Und einmal nach einem Kopfball von Kucka, der sich im Luftduell mit Kimmich durchsetzte
... Und einmal nach einem Kopfball von Kucka, der sich im Luftduell mit Kimmich durchsetzte © REUTERS | Gonzalo Fuentes
Thomas Müller ist weiterhin auf der Suche nach seinem ersten EM-Tor
Thomas Müller ist weiterhin auf der Suche nach seinem ersten EM-Tor © Getty Images | Alexander Hassenstein
Joshua Kimmich erhielt erneut den Vorzug als Rechtsverteidiger
Joshua Kimmich erhielt erneut den Vorzug als Rechtsverteidiger © REUTERS | Gonzalo Fuentes
Julian Draxler verdrängte überraschend Mario Götze aus der Startelf
Julian Draxler verdrängte überraschend Mario Götze aus der Startelf © dpa | Laurent Dubrule
Egal welche Änderungen Löw in der Startelf vornimmt, Özil spielt immer
Egal welche Änderungen Löw in der Startelf vornimmt, Özil spielt immer © REUTERS | Gonzalo Fuentes
Die Slowaken haben sich auch optisch Verstärkung auf den Rängen organisiert
Die Slowaken haben sich auch optisch Verstärkung auf den Rängen organisiert © Getty Images | Clive Rose
Kapitän Bastian Schweinsteiger fand sich erneut auf der Bank wieder
Kapitän Bastian Schweinsteiger fand sich erneut auf der Bank wieder © dpa | Arne Dedert
Am 10. Juli soll der Pokal in die Luft gereckt werden
Am 10. Juli soll der Pokal in die Luft gereckt werden © Getty Images | Clive Rose
Deutsche Fans lassen ihrer Kreativität freien Lauf
Deutsche Fans lassen ihrer Kreativität freien Lauf © dpa | Shawn Thew
Diese beiden Herren hatten sich wohl verirrt
Diese beiden Herren hatten sich wohl verirrt © dpa | Shawn Thew
Joachim Löw war auch auf den Rängen ein gefragter Mann
Joachim Löw war auch auf den Rängen ein gefragter Mann © REUTERS | Gonzalo Fuentes
Egal ob Deutschland oder die Slowakei – Hauptsache EU
Egal ob Deutschland oder die Slowakei – Hauptsache EU © REUTERS | Pascal Rossignol
Deutsche Fans stimmen sich auf das Spiel ein
Deutsche Fans stimmen sich auf das Spiel ein © dpa | Christian Charisius
Gute Stimmung vor dem Spiel unter den Slowakei-Fans
Gute Stimmung vor dem Spiel unter den Slowakei-Fans © REUTERS | Pascal Rossignol
Cathy Hummels war natürlich wieder im Stadion
Cathy Hummels war natürlich wieder im Stadion © dpa | Arne Dedert
Deutsche Fans waren in Lille in der Überzahl
Deutsche Fans waren in Lille in der Überzahl © dpa | Filip Singer
Diese Anhänger glaubten im Vorfeld an ihre Nation und den Viertelfinaleinzug
Diese Anhänger glaubten im Vorfeld an ihre Nation und den Viertelfinaleinzug © dpa | Christian Charisius
Die deutsche Mannschaft machte beim Betreten des Rasens einen entspannten Eindruck
Die deutsche Mannschaft machte beim Betreten des Rasens einen entspannten Eindruck © dpa | Peter Kneffel
Daumen runter? Deutschland steht im Viertelfinale
Daumen runter? Deutschland steht im Viertelfinale © REUTERS | Pascal Rossignol
Einige Experten erwarteten Leroy Sané in der Startelf. Doch Löw entschied sich für Draxler statt Götze
Einige Experten erwarteten Leroy Sané in der Startelf. Doch Löw entschied sich für Draxler statt Götze © REUTERS | Carl Recine
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Der Idealist des Spiels, der die Schönheit früher bisweilen über die Notwendigkeit stellte, hat aus der Pleite von damals gelernt, dass es im Fußball zwischen Opportunismus und Pragmatismus einen Unterschied gibt: Seit Löw beim DFB arbeitet, hatte Deutschland die wichtigen Spiele stets auch wegen der eigenen Schwäche bei Standardsituationen verloren: Italiens Fabio Grosso traf im WM-Halbfinale 2006 nach einer Ecke und leitete so die 2:0-Niederlage ein. Spaniens Carlos Puyol köpfte Löws Team bei der WM 2010 in Südafrika im Halbfinale nach einer Ecke raus (1:0), Mario Balotelli erzielte das 2:0 bei der EM-Endrunde 2012 in Polen und in der Ukraine durch einen Konter nach einer deutschen Ecke (von insgesamt 14 erfolglosen).

„Standards stehen nicht sehr weit oben auf meiner Prioritätenliste“, hatte Löw damals gesagt. Seither hat er die Schönheit des Nützlichen entdeckt, ist pragmatisch geworden, ohne sich selbst zu verleugnen: Bei der WM in Brasilien ebneten sechs Tore nach ruhenden Bällen den Weg zum Titel. Bei der EM in Frankreich gab es in vier Spielen schon drei Tore nach Standards.

Nur durch Niederlagen lernt man, heißt es. Löw ist am Italien-Trauma von damals gereift – und mit ihm seine Mannschaft. Aus dem Halbfinale von 2012 werden im Viertelfinale von Sonnabend sieben Spieler in der Startelf erwartet (Özil, Hummels, Neuer, Boateng, Kroos, Khedira, Gomez). Sechs davon wurden in Brasilien Weltmeister.

Unvergessen: Mario Balotellis Pose
beim EM-Halbfinale
2012
Unvergessen: Mario Balotellis Pose beim EM-Halbfinale 2012 © dpa | Marcus Brandt

Zum Gründungsmythos dieses Titels taugt das EM-Aus 2012 sicher nicht. Dieser liegt noch weiter zurück bei den katastrophalen EM-Turnieren 2000 (Niederlande und Belgien) und 2004 (Portugal), die den Bau der Nachwuchsleistungszentren anstießen. Aber das Trauma von Warschau hat Löw den Weg gezeigt, als er ihn verlassen hatte. „Ich freue mich wahnsinnig auf das Spiel der beiden bisher besten Mannschaften des Turniers“, sagt Löw. Er weiß, dass seine Mannschaft jetzt reifer ist als damals, um diesmal zu bestehen – und er selbst auch.