Évian-Les-Bains/Paris. Wer sich nach Fußball-Romantik sehnt, ist beim letzten Gruppengegner Nordirland an der richtigen Adresse.
Wie das geschehen konnte, wusste Oliver Bierhoff auch nicht. „Das passierte, ohne dass ich es wirklich gemerkt habe“, sagte der Teammanager der deutschen Nationalelf vor der Abreise zum letzten EM-Gruppenspiel an diesem Dienstag. Der Gegner: Nordirland. Alles nicht so berauschend gelaufen bis dahin. Dann aber Bierhoff: Mit dem schnellsten Hattrick der DFB-Historie dreht er nach seiner Einwechslung in der 70. Minute beim Stand von 0:1 gegen die Briten innerhalb von nur sechs Minuten die Partie – Treffer in der 73., 78. und 79. Minute: 3:1. Deutschland darf sich damals, im August 1997, doch noch weiter Hoffnungen auf die WM in Frankreich 1998 machen, und Bierhoff sagt fast 19 Jahre später, das sei für ihn eine schöne Geschichte gewesen.
Nun geht es für die deutsche Nationalelf wieder gegen Nordirland. Bierhoff sollte besser nicht mehr mitspielen, aber schöne Geschichten gibt es trotzdem. Die Mannschaft von Trainer Michael O’Neill ist das Team der schönen Geschichten überhaupt bei dieser EM. Sie fangen an bei den immer leicht an der Grenze zum Wahnsinn schrammenden Fans der „Green and White Army“, die auf dem Nachhauseweg in der Metro einem französischen Kleinkind Gute-Nacht-Lieder singen. Ein Video davon begeistert seit Montag viele Leute im Internet. Und das zieht sich durch den gesamten Kader der Nordiren, die in Frankreich erstmals überhaupt bei einer EM dabei sind und nach dem 2:0 gegen die Ukraine im zweiten Gruppenspiel – dem ersten Sieg bei einem Turnier seit 1982 – sogar auf das Achtelfinale hoffen.
„Ich glaube nicht, dass irgendwas das noch toppen kann“, sagt Jonny Evans. „Ich habe mich noch nie zuvor so emotional bewegt auf einem Fußballplatz gefühlt. Es war schwer, überhaupt zu sprechen“, sagte der 28 Jahre alte Verteidiger und gab zu, dass er sogar geweint habe vor Glück. Evans ist der bekannteste Spieler in einer Auswahl der Namenlosen, weil er lange für Manchester United gespielt hat. Um ihn herum allerdings sammeln sich Typen mit kuriosen Lebenswegen.
Conor Washington arbeitete lange Zeit als Postbote
Da ist zum Beispiel Conor Washington, Stürmer vom englischen Zweitligisten Queens Park Rangers und Teamkollege von Sebastian Polter, der früher bei Union Berlin spielte. Bei der EM 2012 arbeitete der heute 24-Jährige noch als Postbote und spielte nebenbei in der siebten englischen Liga für St. Ives Town. Genau zu dieser Zeit nahm Leicester City einen gewissen Jamie Vardy unter Vertrag. In der abgelaufenen Saison wurde Leicester englischer Meister und Vardy vom Amateurkicker und Fabrikarbeiter zum englischen Nationalspieler und Zweiten der Torschützenliste. Sicher ist Washingtons Geschichte nicht so glamourös wie Vardys. Aber sie ähnelt ihr: „Vardy ist eine Inspiration“, sagt Washington. „Die Leute verstehen langsam, dass man Spieler aus unteren Ligen mit etwas mehr Training zu Nationalspielern entwickeln kann“, sagt der Angreifer.
Sein Aufstieg hat sich sogar bis nach Deutschland herumgesprochen. Als Mats Hummels am Dienstag auf Washington angesprochen wurde, sagte er: „Ich liebe solche Geschichten. Ich bin ein großer Fan von ihm und hoffe, dass wir nach dem Spiel Trikots tauschen können.“ Gegen Hummels und den Weltmeister will der ehemalige Postbote Conor Washington liefern, und darf das wohl auch gegen Deutschland wieder versuchen. Gegen die Ukraine setzte ihn Trainer O’Neill statt des bisher besten Torjägers Kyle Lafferty im Sturmzentrum ein. Lafferty ist ein Zweitligastürmer vom Birmingham City, über den Palermos Präsident Maurizio Zamparini 2013 mal sagte: „Er ist ein Womanizer ohne Kontrolle, ein Ire, der keine Regeln kennt. Nie trainiert er, er ist komplett entgleist.“ Für elf Treffer beim damaligen italienischen Zweitligisten, an den Lafferty ein Jahr ausgeliehen war, hat es trotzdem gereicht. Mit sieben Treffern in der EM-Qualifikation hat er Nordirland erst zur EM geschossen.
Die Fans haben Will Grigg einen Song gewidmet
Und dann ist da ja auch noch Will Grigg, der bisher zwar in aller Munde ist – aber noch nicht auf dem Feld erschienen. Der Drittligastürmer hat eine phänomenale Saison hingelegt und seinen Club Wigan Athletic mit 25 Toren in 40 Spielen in die zweite englische Liga geschossen, sodass O’Neill nicht an seiner Nominierung vorbeikam. Wegen dieser Trefferserie haben ihm die nordirischen Fans einen Song gewidmet: Zur Melodie von „Freed from Desire“ von Gala aus dem Jahr 1996 wird nun überall in den nordirischen Pubs und den Spielstätten der Nordiren in Frankreich „Will Grigg’s on fire“ gesungen. Das Lied stieg zwischenzeitlich in die Top Ten der UK-Popcharts auf.
Lethargische DFB-Elf im Glück gegen Polen
Das alles sind schöne Geschichten, und sie beweisen, dass im modernen Fußball eben doch noch ein wenig Platz für Romantik ist. Nach seinem Treffer gegen die Ukraine, dem allerersten in der nordirischen EM-Geschichte, sagte Gareth McAuley: „Fußball ist manchmal ein romantisches Spiel. Manchmal gewinnt der Underdog“. Auch der 36-Jährige weiß das aus eigener Anschauung: Bis er 24 war, lief er noch in der vierten englischen Liga auf. Nun spielt er bei West Bromwich Albion in der Premier League und hat für Nordirland Geschichte geschrieben. „Wir wollten immer mit einer realistischen Chance ins letzte Spiel gehen“, hat Nordirlands Trainer Michael O’Neill vor der Partie gegen Deutschland gesagt und die Chance aufs Achtelfinale gemeint: „Nun ist es so gekommen.“