Marseille/Hamburg. Spätestens nach dem 1:1 gegen Portugal sind die Nordmänner das angesagteste „Zweitteam“ der Fußballfans.

Island! Wale, Gletscher, 334.000 Einwohner. Vulkane, die schon mal den gesamten europäischen Flugverkehr lahmlegen. Heiße Quellen, kühle Sommer, Sängerinnen mit extravaganten Quietschtönen, Krimikommissare am Rande der Dauerdepression. Brillante Handballer, und jetzt auch noch: Fußball.

Fußball! Island! Herrlich! Spätestens nach dem 1:1 gegen Portugal mit seinem unlustigen Welt-Mega-Giga-Star Cristiano Ronaldo sind die Nordmänner das angesagteste „Zweitteam“ der Fußballfans auch in Hamburg. Etwas fürs Herz und die Emotion. Die Kleinen, denen man einfach so seine Sympathien schenken kann. 12,29 Millionen sahen am Dienstag durchschnittlich im ZDF den Kampf gegen die Großen. Und hofften wie die Eimsbüttelerin Renate: „dass der blöde Ronaldo bloß nicht einen der beiden Freistöße am Ende reinschießt.“

Hat er nicht. Stattdessen beklagte sich der portugiesische Kapitän über die „kleine Mentalität“, des Gegners, der „nur verteidigen“ wollte. Und? Deutschlands isländischer Handball-Bundestrainer Dagur Sigurdsson postete anschließend im Internet sich breit grinsend von der Tribüne in St. Etienne, während unten der unentschieden-geschlagene CR7 mit hängenden Kopf abmarschierte: „Es war einfach nur gigantisch.“ Rund 8000 Isländer oder Gesinnungsisländer haben sich zur ersten Endrundenteilnahme ihres Teams bei einem großen Fußballturnier auf dem Weg nach Frankreich gemacht. Blau gekleidet, sangesfroh, friedlich – sofort sind sie in die erste Liga der sonstigen Fanlieblinge Irland und Schweden aufgestiegen.

Am Freitag feierten sie neben dem Fußball ihren Nationalfeiertag. Bester Laune sicherlich. Eventuell auch wieder blau, auch wenn kein Spiel war. Das folgt erst an diesem Sonnabend in Marseille, wenn die „Strakarnir okkar“ (Unsere Jungs) zum zweiten Vorrundfensspiel gegen Ungarn (18 Uhr/ARD) antreten. „Wir gehen in das Match, um es zu gewinnen. Wenn wir das schaffen, können wir noch genüsslicher auf das Portugal-Spiel zurückschauen“, erklärte Mittelfeldspieler Johann Berg Gudmundsson.

Die Vorbereitung verlief für beide Teams allerdings suboptimal. Das Abschlusstraining musste wegen der schlechten Rasenverhältnisse im Stade Vélodrome entfallen, stattdessen stellte die Uefa einen Ausweichplatz zur Verfügung. Schon beim 2:0-Sieg Frankreichs gegen Albanien in Marseille hatten sich Platzprobleme offenbart, noch kurz vor der Fußball-EM waren dort die Rocker von AC/DC aufgetreten.

In die Karten spielen könnte das den spielerisch limitierten isländischen Underdogs, die in Frankreich vor allem auf ihren großen Zusammenhalt schwören. „Dass wir bedingungslos füreinander kämpfen, charakterisiert uns sicher am besten“, sagte der Ex-Hoffenheimer Gylfi Sigurdsson. „Wir sind alle gute Kumpels, wahrscheinlich mehr als das in anderen Nationalmannschaften der Fall ist, und das hat uns weit gebracht.“ Seit Jahren spielen viele aus dem Team schon zusammen. Sechs Spieler aus dem EM-Team schrieben bereits vor fünf Jahren isländische Fußballgeschichte, als sie sich für die Endrunde der U21-EM qualifizieren konnten.

„Wir schwammen damals auf einer Welle der Euphorie, waren aber damals noch nicht reif für so ein großes Turnier“, erinnert sich Mittelfeldspieler Birkir Bjarnson, inzwischen beim FC Basel, der gegen Portugal das erste Tor in Islands EM-Geschichte erzielte – und die erste Gelbe Karte für seinen Jubel kassierte. „Aber wir haben eine Menge aus diesem Turnier gelernt.“ Stürmer Alfred Finnbogason vom FC Augsburg sieht es ähnlich: „Wir haben eine gute Generation, gute Organisation und ein gutes System. Wenn ein Neuer kommt, weiß er sofort, welche Rolle er zu spielen hat.“

Allerdings: Gegen Portugal konnten sie nur gewinnen. Jetzt aber haben sie etwas zu verlieren. Die Ungarn mit dem deutschen Trainergespann Bernd Storck und Andreas Möller waren als ähnlich großer Außenseiter in das Turnier gegangen und überraschten mit dem 2:0 gegen Österreich. „Sie sind wirklich kompakt und solide, bekannt für ihre Defensivstärke. Aber gegen Österreich konnte man sehen, wie stark sie auch im Angriff sind“, lobte Islands Trainer Heimir Hallgrimsson seine Kollegen: „Alle Anerkennung gilt Bernd Storck und seinem Team.“

Die Mehrheit der Zuschauer in Marseille aber wird hinter der kleinsten Nation stehen, die je an einer EM teilnahm. Auch in Frankreich haben die Nordeuropäer viele Herzen gewonnen. „Man hat den Eindruck, dass im Moment wirklich jeder auf den isländischen Zug drauf springt und uns unterstützt“, weiß Gudmundsson. „Es sind nicht nur die Isländer, die hinter uns stehen.“

Island: Halldorsson – Saevarsson, 6 Sigurdsson, Arnason, 23 Skulason – Gunnarsson, Sigurdsson – Gudmundsson, Bjarnason – Sigthorsson, Bödvarsson. Ungarn: Kiraly – Fiola, 20 Guzmics, 2 Lang, Kadar – Nagy, Gera, Kleinheisler – Nemeth, Dzsudzsak – Szalai. Schiedsrichter: Karassew (Russland)