Évian-les-Bains. Der Star von Real Madrid ist der Prototyp des neuen Statistiktools Packing: Keiner soll so viele kluge Pässe wie er spielen.

Viel gibt es nicht, was man über Toni Kroos nicht weiß. Der 26 Jahre alte Fußballer spielt gerne Poker und Tennis, ist ein Hundefreund und wird bald zum zweiten Mal Vater. Der Nachbar von Cristiano Ronaldo in Madrids edlem Wohnkomplex La Finca hat zweimal die Champions League gewonnen, ist dreimal deutscher Meister geworden und natürlich auch Weltmeister. Und wenn nicht vor ein paar Jahren ein früherer Klassenkamerad von Kroos verraten hätte, dass der kleine Toni in der Ostseeschule in Rostock immer in Mathematik abschreiben musste, dann hätte man fast glauben können, dass alles rund um diesen Kroos zu perfekt sei, um wahr zu sein.

Doch ausgerechnet Mathe!

Wahrscheinlich gibt es im Leben kaum noch einen Bereich, der so sehr von Zahlen bestimmt wird wie der Fußball. Ballbesitz, Zweikampfquote, Abseitsverhältnis. Torschüsse, Fehlpässe, Vorlagen. Auch wenn Bayerns Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Rummenigge einst behauptete, dass Fußball keine Mathematik sei, gibt in diesem herrlichen Spiel mittlerweile nichts mehr, was nicht auch gezählt wird. Seit Kurzem ist nun auch der sogenannte Packing-Wert dazugekommen, von dem TV-Zuschauer am Sonntag erstmals bei Deutschlands Sieg gegen die Ukraine in der ARD erfuhren. Der Grundgedanke dabei ist, zu messen, wie viele Gegenspieler mit einem Pass überspielt werden. Oder anders ausgedrückt: Es geht darum, erstmals einen qualitativen und nicht nur einen quantitativen Wert zu erheben.

„Ich habe mich schon immer darüber geärgert, dass bislang ein Querpass genauso gewertet wurde wie ein geiler Pass in die Spitze“, sagt Stefan Reinartz. Der frühere Bundesligaprofi, der in diesem Sommer mit nur 27 Jahren seine Bundesligakarriere beendet hat, sitzt in einem gekühlten Konferenzraum des Delta-Hotels und versucht das neue Statistiktool zu erklären. Der dreifache Nationalspieler sieht aus wie ein BWL-Student, spricht aber wie ein Vertriebler. Er erzählt von seinem neuen Start-up-Unternehmen Impect, von den Partnervereinen (Leverkusen, Dortmund, Leipzig) und von einer angeblichen Revolution der Datenerhebung. Vor allem aber spricht Reinartz von einem ehemaligen Mannschaftskollegen. „Der Toni Kroos“, sagt Reinartz anerkennend, „ist der Packing-König. Ich war schon immer ein Kroos-Fan. Aber jetzt weiß ich noch viel besser, warum.“

Mittelfeldchef hatte mit Abstand die meisten Ballkontakte

Nach dem ersten Gruppenspiel gegen die Ukraine in Lille wurde der frühere Mathe-Abgucker von der Uefa zum „Man of the Match“ gewählt. Der Mittelfeldchef hatte mit Abstand die meisten Ballkontakte (126), er spielte die meisten Pässe (109), und er hatte die beste Passquote (94 Prozent). Er bereite den Treffer zum 1:0 vor, und er schoss auch selbst dreimal auf das Tor. Aber vor allem hatte er den mit Abstand besten Packing-Wert aller. Kroos überspielte 112 Gegenspieler und dabei 14 Verteidiger. Damit hatte Kroos einen deutlich besseren Wert als mit Mario Götze (1/1), Julian Draxler (18/3), Mesut Özil (20/4) und Thomas Müller (15/6) die deutsche Offensivabteilung zusammen. „Der von uns erhobene Wert zeigt, welchen Einfluss einer auf dem Platz tatsächlich auf das Spiel hat“, sagt Reinartz. „Und Kroos hat den größten Einfluss.“

Es ist schon spät in der Nacht zum Montag, als dieser „Einflussspieler“ im Bauch des Stade Pierre Mauroy vor die Mikrofone tritt. Der Scheitel akkurat zur Seite frisiert, der Blick geradeaus. „Der Ball lief gut in den Zwischenräumen“, sagt er. „Aber wir sind noch nicht da, wo wir hinmüssen, wenn wir das Turnier gewinnen wollen.“

Boateng rettet in Weltklasse-Manier

Zwei Tage später steht Toni Kroos wieder da, wo er am liebsten steht: in der Mitte des Platzes. Training. In Évian-les-Bains. Kroos spielt einen Ball nach links, einen nach rechts. Er macht das, was Millionen von Menschen gerne machen. Aber er macht es anders.

„Jeder hat seine speziellen Stärken. Meine ist es, oft den Ball zu haben und damit gute Sachen anzufangen“, sagte Kroos vor einigen Tagen der „Süddeutschen Zeitung“. Im Endeffekt sei es so: „Je öfter ich den Ball habe, umso dominierender spielen wir – und umso öfter gewinnen wir.“

Kroos’ Marktwert wird mittlerweile auf 50 Millionen Euro taxiert

Kroos hat recht. Laut Reinartz habe dessen Agentur Impect alle 306 Bundesligaspiele der vergangenen Saison ausgewertet. Dabei sei herausgekommen, dass in 263 Spielen die Mannschaft erfolgreich war, die mehr Verteidiger als der Gegner überspielte. Das seien 86 Prozent der Spiele. Fußball-Mathematik kann doch so einfach sein.

Unlängst soll Real Ma­drids Vereinspräsident Florentino Perez in kleiner Runde eingeräumt haben, dass er selbstverständlich Spieler nach Namen einkaufe. Den einen habe er wegen des südamerikanischen Marktes gekauft, den anderen wegen des Trikotverkaufs. Nur Kroos, so soll Perez gesagt haben, habe er aus anderen Gründen gekauft: weil er der beste Fußballer sei.

Dieser beste Fußballer, von dem ganz nebenbei auch die fünftmeisten Trikots aller Real-Profis verkauft wurden, hat gerade die Königsklasse gewonnen. Und will nun auch Europameister werden. „Wenn man so einen Schritt von den Bayern zu Real gemacht hat und sich dabei so durchsetzt“, sagt Nationalmannschaftskollege Jerome Boateng, der die zweitbesten Packing-Werte aller Deutschen hat, „dann sagt das doch schon alles über seine Qualitäten aus.“

Seit Kroos bei Real spiele, hat auch Bundestrainer Joachim Löw gerade erst angemerkt, habe Deutschlands Chefstratege noch einmal einen großen Entwicklungsschub gemacht. 25 Millionen Euro hat Real vor zwei Jahren an die Bayern überwiesen. Kroos’ Marktwert wird vom Fachportal „transfermarkt.de“ mittlerweile auf 50 Millionen Euro taxiert. Es sind Zahlen, die beeindrucken. Selbst wenn man nicht das größte Mathematik-Genie ist.