Berlin. Kimmich, Brandt und Weigl dürfen sich Hoffnungen auf die Europameisterschaft machen. Vier Spieler muss Löw noch streichen.

Anfang März griff Joachim Löw zum Telefon und wählte eine Nummer, die noch nicht allzu oft auf dem Display des Bundestrainers aufgeleuchtet hatte. Es war die von Julian Brandt, einem überaus veranlagten Offensivspieler aus Leverkusen, der aber kurz zuvor in einer überaus rätselhaften Formkrise steckte. Löw sagte dem 20-Jährigen, der noch kein Länderspiel bestritten hatte, dass er gute Chancen auf einen EM-Kader-Platz habe, wenn er sich im Saisonendspurt steigere.

Am Dienstagmorgen griff Löw erneut zum Telefon, klingelte ein paar kurzurlaubende Spieler aus dem Bett, und auch Brandts Nummer wählte der 56-Jährige. Löw eröffnete dem Blondschopf, dass er einer von 27 Profis sei, die er für das vorläufige Aufgebot der in 24 Tagen beginnenden EM in Frankreich vorgesehen habe. Löw ist nämlich seit Franz Beckenbauer 1990 der erste Bundestrainer, der es sich zur Angewohnheit gemacht hat, vor einem Turnier stets noch Akteure auszusortieren. Für Frankreich bei der Uefa melden muss er am 31. Mai final 23 Spieler.

Eine andere Angewohnheit Löws lautet: überraschen. Bei jedem vorläufigen Kader für seine vier Turniere als Cheftrainer präsentierte er Neulinge, die sich in Deutschlands Eliteelf zuvor keinerlei Meriten erspielt hatten: vor der EM 2008 den Zweitligaprofi Marko Marin, vor der WM 2010 Holger Badstuber und Dennis Aogo, vor der EM 2012 Julian Draxler und vor Brasilien 2014 Erik Durm, Kevin Volland, Christoph Kramer und Shkodran Mustafi.

Löw setzt auf Kimmichs Flexibilität

Für die EM in Frankreich sind es drei Überraschungen: Neben Brandt berief Löw am Dienstag auch den Münchner Joshua Kimmich, 21, und den Dortmunder Julian Weigl, 20. „Wir haben diese Spieler intensiv beobachtet und freuen uns auf sie“, sagte Löw in der französischen Botschaft in Berlin – einem Ort, dessen Symbolik, direkt am Pariser Platz und neben dem Brandenburger Tor gelegen, wo 2014 noch der WM-Titel auf der Fanmeile bejubelt wurde, bewusst gewählt war.

Kommentar: Löw setzt nur auf eine Überraschung

Die Nominierung Kimmichs, der während der Abwesenheit einiger Platzhirsche beim FC Bayern im Abwehrzentrum überzeugte, war noch erwartet worden. „Er kann in der Abwehr, auf der Sechs sowie auch mal außen spielen und hat bei Bayern auf einem hohen Niveau gespielt“, sagte Löw. Durch den Ausfall des Dortmunders Ilkay Gündogan (ausgerenkte Kniescheibe) benötigt der Bundestrainer vor allem Alternativen im defensiven Mittelfeld. Überraschender kam trotz dieser Problemzone Weigls Berufung:

Vor einem Jahr erst vom Zweitligisten 1860 München gekommen, mauserte sich der schmale Mittelfeldspieler mit dem Kindergesicht zu einer festen Größe beim BVB. Seine Qualitäten zeigten sich wieder einmal am Wochenende gegen Köln, als er zwei neue Bundesligarekorde aufstellte: 214 Ballkontakte in einem Spiel, 199 angekommene Pässe von 210. „Er hat eine unglaubliche Übersicht“, schwärmte Löw.

Brandt mit Turbo-Schlussspurt

Am rasantesten aber ging die Entwicklung bei Brandt. Sie dauerte nur zweieinhalb Monate vom Talent zum möglichen EM-Fahrer: Nachdem der Angreifer bis Ende Februar nur achtmal in Leverkusens Startelf gestanden hatte, war er im Schlussspurt mit elf Torbeteiligungen in neun Partien maßgeblich für das Bayer-Hoch verantwortlich. „Julian hat einen Lauf, ist technisch sehr gut und kann in engen Räumen hervorragend kombinieren“, so Löw. Dass auch der Schalker Jungstar Leroy Sané im vorläufigen Kader steht, überraschte nicht: Der 20-Jährige hatte im November debütiert und könne „etwas Besonderes ins Spiel bringen“, sagte der Bundestrainer.

Bei den Neuen hat Löw also Mut bewiesen, aber dennoch eine ganz mutige Entscheidung vermieden: Obwohl Kapitän Bastian Schweinsteiger wegen einer zweifachen Innenbandverletzung kaum Spielpraxis bei Manchester United sammelte und sich erst im Aufbautraining befindet, hält Löw an ihm fest: „Ich möchte sehen, wie er bis zum 31. Mai mittrainieren kann. Wenn er topfit ist, weiß ich um seinen Ehrgeiz. Er kann im Laufe des Turniers sehr wichtig werden“, so Löw. Zweimal schon hatte er das mit einem angeschlagenen Schweinsteiger so gemacht: 2012 bei der EM ging das schief, 2014 in Brasilien glückte die Sache.

Podolski erscheint verzichtbar, Gomez nicht

Dass auch Lukas Podolski einen Platz sicher hat, obwohl der Stürmer von Galatasaray Istanbul (zwölf Saisontore) ewig schon keine tragende Rolle mehr auskleidet, begründete Löw so: „Er hat immer noch den sportlichen Wert und ist eine Persönlichkeit, die der Truppe viel geben kann.“ Podolski bringt das Kunststück fertig, zu den beliebtesten Profis im Land zu gehören, aber von den allermeisten Experten als verzichtbar eingeschätzt zu werden. Unverzichtbar ist dagegen Mario Gomez, der mit Besiktas Istanbul gerade nicht nur türkischer Meister geworden ist, sondern mit 26 Treffern wohl auch Torschützenkönig wird.

Löw hatte am Dienstag auch schlechte Nachrichten durchzutelefonieren: Neben den Weltmeistern Christoph Kramer und Matthias Ginter war auch für Torwart Kevin Trapp kein Platz. Auch Dortmunds Marcel Schmelzers wurde nicht berücksichtigt. Hinter Manuel Neuer werden Marc-André ter Stegen und Bernd Leno dabei sein. Am 24. Mai startet Löw mit seinen 27 Berufenen ins Trainingslager in Ascona (Schweiz), wo es nach sechs Niederlagen in den 17 Partien seit Brasilien allerhand zu justieren gibt. „Wir sind stark, aber nicht unbesiegbar“, sagte Löw. „Um bei der EM auf Topniveau zu spielen, haben wir noch viel zu tun.“

EM-Spielplan zum Herunterladen

Das ist der vorläufige Kader für die EM in Frankreich

Tor: Bernd Leno (Bayer Leverkusen), Marc-André ter Stegen (FC Barcelona), Manuel Neuer (Bayern München

Abwehr: Antonio Rüdiger (AS Rom), Shkodran Mustafi (FC Valencia), Benedikt Höwedes (FC Schalke 04), Jonas Hector (1. FC Köln), Mats Hummels (Borussia Dortmund), Jérome Boateng (Bayern München).

Mittelfeld: Bastian Schweinsteiger (Manchester United), Emre Can (FC Liverpool), Joshua Kimmich (Bayern München), Julian Brandt (Bayer Leverkusen), Julian Draxler (VfL Wolfsburg), Julian Weigl (Borussia Dortmund), Leroy Sané (FC Schalke 04), Mesut Özil (FC Arsenal), Sami Khedira (Juventus Turin), Tono Kroos (Real Madrid), Sebastian Rudy (1899 Hoffenheim), Mario Götze (Bayern München), Thomas Müller (Bayern München)

Angriff: Lukas Podolski (Galatasaray Istanbul), Mario Gomez (Besiktas Istanbul), Marco Reus (Borussia Dortmund), André Schürrle (VfL Wolfsburg), Karim Bellarabi (Bayer Leverkusen).